Die Leiden des jungen Werthers
Die Leiden des jungen Werthers lautet der ursprüngliche Titel des von Johann Wolfgang von Goethe verfassten Briefromans, in dem der junge Rechtspraktikant Werther bis zu seinem Suizid über seine unglückliche Liaison zu der mit einem anderen Mann verlobten Lotte berichtet. Er war nach dem nationalen Erfolg des Dramas Götz von Berlichingen (1773) Goethes zweiter großer, jetzt sogar europäischer Erfolg (1774) und ist, wie der Götz, ebenfalls der literarischen Strömung des Sturm und Drang zuzuordnen.
Die Erstausgabe erschien im Se
ptember 1774 zur Leipziger Buchmesse und wurde gleich zum Bestseller. 1787 überarbeitete Goethe den Roman, wobei unter anderem das Genitiv-s im Titel entfiel. Der Roman ließ Goethe 1774 gleichsam über Nacht in Deutschland berühmt werden und gehört zu den erfolgreichsten Romanen der Literaturgeschichte.[1]
Die Handlung des Romans ist insofern autobiografisch, als Goethe hier seine platonische Beziehung zu der bereits inoffiziell verlobten Charlotte Buff literarisch verarbeitete.[2] Das Motiv für den tragischen Ausgang dieser Liebe, die Selbsttötung Werthers, lieferte Goethe der Suizid seines Freundes Karl Wilhelm Jerusalem, Gesandtschaftssekretär in Wetzlar. Der hatte sich in eine verheiratete Frau verlieb
t, Elisabeth Herdt, geb. Egell (1741–1813), die für ihn unerreichbar blieb. Sie war seit 1768 die Gemahlin von Philipp Jakob Herdt (1735–1809), dem Geheimen Sekretär bei der Gesandtschaft des kurpfälzischen Fürstentums Pfalz-Lautern in Wetzlar. Die literarische Figur der Lotte im Roman trägt auch Züge der schwarzäugigen Maximiliane von La Roche, einer weiteren Bekanntschaft des jungen Goethe aus der Entstehungszeit des Romans. Trotz solcher Nähe des Romans zur Realität bleibt Goethes Werther ein fiktionaler, literarisch komponierter Text – weder bloße Selbstaussprache noch Schlüsselroman.
Inhalt
Die Handlung erstreckt sich über den Zeitraum vom 4. Mai 1771 bis 24. Dezember 1772.
Der junge Werther hat seinen Heimatort verlassen, um für seine Mutter eine Erbschaftsangelegenheit zu regeln und so zugleich eine unglückliche Liebesgeschichte hinter sich zu lassen. Er bezieht zunächst Quartier in einer Stadt, danach im benachbarten idyllischen Dorf „Wahlheim“ (Garbenheim) und genießt es, in der freien Natur umherzustreifen und seine Eindrücke immer wieder in kleinen Zeichnungen zu verarbeiten. Eines Tages lernt er den sympathischen Amtmann S. kennen, einen Witwer und Vater von neun Kindern, der ihn zu sich nach Hause einladen möchte. Werther schiebt den Besuch jedoch auf und hat ihn bald vergessen. Auf der Fahrt zu einem Tanzvergnügen mit anderen jungen Leuten macht die Kutschgesellschaft beim Haus des Amtmanns Halt, um dessen Tochter Lotte abzuholen. Werther sieht sie, umringt von ihren acht jüngeren Geschwistern, denen sie ihr Abendbrot von einem Brotlaib abschneidet, und ist tief beeindruckt von dieser Szene, vor allem aber von dem schönen Mädchen, das hier ganz die Mutterrolle übernommen hat. Während des Balls, dem Ziel des gemeinschaftlichen Ausflugs, fordert Werther Lotte auf, mit ihm den zweiten Kontretanz zu tanzen – sie sagt ihm den dritten zu. Als Lottes Freundinnen das glückliche Einverständnis bemerken, das Lotte und Werther beim Tanzen zeigen, erinnern sie Lotte an einen gewissen Albert.[7] Auf Werthers Nachfrage erklärt ihm Lotte, Albert sei „ein braver Mensch, mit dem sie so gut als verlobt“ sei.[8] Im Verlauf des Abends zieht ein Gewitter auf. Werther und Lotte betrachten anschließend vom Fenster aus die noch regenfeuchte, erfrischte Natur. Beiden kommt das gleiche Gedicht in den Sinn, die Ode Frühlingsfeier von Klopstock. Werther interpretiert dies als Ausdruck ihrer Seelenverwandtschaft und sucht von nun an immer öfter die Nähe Lottes.
Als Lottes Verlobter, Albert, von einer Geschäftsreise zurückkehrt, ändert sich Werthers Stimmung allmählich. Es entsteht ein Dreiecksverhältnis, in dem Lotte Werther zunächst als eine „Heilige“ erscheint, in deren Nähe Werther keine Begierde empfindet. Anfangs ist Werthers Beziehung zu Lotte also ohne Zwang von außen rein platonischer Natur. Albert und Werther freunden sich zunächst an und führen mehrere Diskurse miteinander, z. B. auch über den Selbstmord oder die „Krankheit zum Tode“, die Schwermut. Dabei wird der Unterschied zwischen beiden Charakteren – Werther voll stürmischer Gefühle, Albert der besonnene Traditionalist – sehr deutlich. Als Werther aber bemerkt, dass er seinen starken Gefühlen für Lotte aus Rücksicht auf Albert nicht nachgeben darf, verlässt er den Ort fluchtartig, ohne sich zu verabschieden. Auslöser dafür ist ein sehr emotionales Gespräch, in dem deutlich wird, dass Lotte ihrer verstorbenen Mutter am Sterbebett zugesagt hat, Albert zu ehelichen (Ende des I. Buches).
Werther arbeitet eine Zeitlang bei einem Gesandten am Hofe. Die Pedanterie seines Vorgesetzten und die bornierte Enge der höfischen Etikette lassen ihn jedoch erkennen, dass er in jener Gesellschaft nur eine Außenseiterrolle spielen und sich nicht mit ihr identifizieren kann. Als er eines Tages vom Grafen C. aus einer adeligen Runde vorsichtig hinauskomplimentiert wird, da sich viele Gäste von der Anwesenheit Werthers, eines Bürgerlichen, gestört fühlen, und als daraufhin über Werthers Fauxpas in aller Öffentlichkeit getratscht wird und auch seine neue, Lotte etwas ähnelnde Bekannte, das „Fräulein von B..“, ihm schonend beizubringen versucht, dass er zu übermütig und sich seines bürgerlichen Standes nicht genügend bewusst sei, fühlt er sich wie „zerstört“. Nachdem er kurz zuvor auch noch erfahren musste, dass Lotte und Albert inzwischen geheiratet haben, ohne ihn vorher informiert und zur Hochzeit eingeladen zu haben, bittet er schließlich um seine Entlassung vom Hofe, reist ab und hält sich zunächst bei einem ihm besonders gewogenen Fürsten auf. Dort bleibt er nur wenige Wochen, fährt dann in seinen Heimatort und kehrt schließlich nach Wahlheim zurück.
Werther beginnt bald erneut, Lotte regelmäßig zu besuchen. Unbewusst kokettiert Lotte immer wieder mit Werthers Gefühlen, z. B. indem sie ihren Kanarienvogel erst an ihren Lippen und anschließend an seinen picken lässt und so Werthers Leidenschaft zusätzlich entfacht. Weil dieser ihr Angebot ablehnt, „die Seligkeit einer wahren Freundschaft [zu] genießen“, und weil im Dorf bereits über die beiden geredet wird, fühlt sich Lotte bedrängt und bittet Werther, auch auf Alberts Wunsch hin, vier Tage zu warten und sie erst zu Weihnachten wieder zu treffen.
Als Werther Lotte trotzdem vor Ablauf dieser Frist in Alberts Abwesenheit aufsucht und ihr aus seiner Ossian-Übersetzung Gedichte (Die Gesänge von Selma) vorliest, werden die beiden, wie früher bei der Klopstock-Szene, von ihren Gefühlen überwältigt. Doch sobald Werther Lotte leidenschaftlich zu umarmen und küssen beginnt und damit den rein platonischen Charakter der Beziehung in Frage stellt, reißt diese sich verwirrt los, flüchtet und schließt sich im Nebenzimmer ein. Um Lottes Ehre und Ehe nicht weiter zu gefährden, beschließt Werther, sie nicht weiter zu behelligen und sich das Leben zu nehmen. In einem letzten Brief an Lotte äußert Werther die Zuversicht, dass er Lotte in einem anderen Leben wiedersehen werde. Um Mitternacht vor Heiligabend schießt er sich an seinem Schreibtisch mit einer von Albert ausgeliehenen Pistole in den Kopf. Am nächsten Morgen wird er tödlich verwundet aufgefunden. Gotthold Ephraim Lessings Bürgerliches Trauerspiel „Emilia Galotti“ liegt aufgeschlagen auf seinem Pult. Gegen zwölf Uhr mittags erliegt er seiner schweren Verletzung. Ein christliches Begräbnis bleibt dem Selbstmörder verwehrt (Ende des II. Buches).
Form
Goethe wählte die Form des Briefromans, die erst gegen Ende des zweiten Teils durch Kommentare des fiktiven „Herausgebers“ abgelöst wird. Jean-Jacques Rousseaus Julie ou la Nouvelle Héloïse hatte dreizehn Jahre zuvor bewiesen, welch besonderer Effekt mit der Veröffentlichung eines scheinbar authentischen Liebesbriefwechsels erreicht werden konnte. Dass Goethe dieses Buch nicht nur kannte, sondern sich sogar mit seinem Helden Saint-Preux identifizierte, zeigt sich, wenn er im Rückblick auf die Wetzlarer Zeit schreibt: Und so nahm ein gemeiner Tag den andern auf, und alle schienen Festtage zu sein; der ganze Kalender hätte müssen rot gedruckt werden. Verstehen wird mich, wer sich erinnert, was von dem glücklich-unglücklichen Freund der Neuen Heloise geweissagt worden: Und zu den Füßen seiner Geliebten sitzend, wird er Hanf brechen, und er wird wünschen Hanf zu brechen, heute, morgen und übermorgen, ja, sein ganzes Leben. Die Formel „heute, morgen und übermorgen, ja, ein ganzes Leben“ ist dem entscheidenden Brief in der Neuen Heloise entnommen, durch den der Protagonist von seinem Selbstmordplan abgebracht wird.
Die erste Auflage des Romans erschien anonym und begann mit der kurzen Einleitung eines „Herausgebers“. Dass dieser ebenso die Fiktion eines Autors war wie die folgenden Briefe selbst, konnten die Leser dieser Ausgabe folglich nicht erkennen. Ein solcher Kunstgriff suggerierte vielmehr, es handele sich bei den Briefen um echte Schriftstücke, die (mit drei Ausnahmen) an Werthers besten Freund Wilhelm gerichtet waren. Dessen Rolle nimmt nun zwangsläufig der Leser ein: Er wird zum Mitwisser von intimen Gefühlen, die ein scheinbar authentischer Briefschreiber dem ihm am nächsten stehenden Menschen offenbart.
Indem der fiktive Herausgeber sich wiederholt zu Wort meldet, wird die Vorstellung erhärtet, dass es sich tatsächlich um echte Briefe handelt. Im Gegensatz zu Werthers stets emotionaler Sprache ist der Ton des Herausgebers zwar teilnehmend, aber durchweg sachlich. Letzteres unterstreichen besonders die in einem Roman sonst unüblichen Fußnoten, in denen der Herausgeber Orts- und Personennamen chiffriert, angeblich um tatsächlich existierende Personen zu schützen.
Wechsel der Erzählhaltungen
Ist der Roman selbst als Briefroman in der Ich-Erzählform geschrieben, so sind sowohl das Vorwort als auch der Abschnitt Der Herausgeber an den Leser von der auktorialen Erzählhaltung geprägt. Dieser Kunstgriff wird einerseits aus praktischen Erwägungen erforderlich – kann doch Werther beispielsweise nicht seinen eigenen Tod in einem Brief darstellen, andererseits jedoch auch, um zum Schluss den Spannungsaspekt nochmals zu verstärken. Indem zwischen eingestreuten und nach dem Tod angeblich gefundenen Dokumenten und der Kommentierung durch den allwissenden Erzähler ständig gewechselt wird, erhöht sich die Dramatik der Geschehnisse in diesem Schlussabschnitt merklich. Siehe auch: Typologisches Modell der Erzählsituationen.
Rezeption
Die Leiden des jungen Werthers gilt als Schlüsselroman des Sturm und Drang. Er entwickelte sich „zum ersten Bestseller der deutschen Literatur“ wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt und war Mitauslöser der sogenannten Lesesucht. Dass sein Buch ein Welterfolg werden würde, war auch für Goethe nicht vorhersehbar. Später schrieb er in seiner Autobiografie Dichtung und Wahrheit: „Die Wirkung dieses Büchleins war groß, ja ungeheuer, und vorzüglich deshalb, weil es genau in die rechte Zeit traf.“
Kontroversen um Werther als Typ, seine Weltanschauung und Goethes Wirkungsabsicht
Der Roman rief seit seinem Erscheinen bei Kritikern wie Befürwortern äußerst emotionale Reaktionen hervor.
18. Jahrhundert
Viele zeitgenössische bürgerliche Leser empfanden Werther als Störer des Ehefriedens, als Rebellen und Freigeist, der ihren moralischen und religiösen Wertvorstellungen widersprach. Sie warfen dem Buch außerdem vor, die Jugend zum Selbstmord zu verführen, und glaubten sich durch die nach seinem Erscheinen einsetzende „Selbstmordwelle“ bestätigt. Neuere Studien bestätigen ein knappes Dutzend solcher Suizide.
Dieselbe Kritik kam vor allem von kirchlicher Seite und von einigen zeitgenössischen Dichtern. Der konservative Theologe Lavater beispielsweise bezeichnete den Werther als „unchristlich“ und „jeglichem Anstand zuwider“. Am heftigsten bekämpfte der Hamburger Hauptpastor Goeze das Buch: es gereiche „unserer Religion zur Schande und allen unbefestigten Lesern zum Verderben“. In einigen Regionen (z.B. in Sachsen, Dänemark oder dem Habsburgerreich) wurde das Buch wegen seiner angeblichen Verherrlichung des Suizids sogar verboten. Goethe verwahrte sich gegen derlei Unterstellungen und argumentierte, er selbst sei durch sein eigenes Überleben das beste Beispiel dafür, dass man sich seinen Kummer vom Herzen schreiben müsse, was aber die Frage offen lässt, wieso für das Verarbeiten des Kummers die Veröffentlichung dieses vom Herzen Geschriebenen denn wichtig sei.
Allerdings stellte er bei der zweiten Ausgabe von 1775 vor den ersten und den zweiten Teil jeweils einen Motto-Vers, wobei letzterer wie folgt endete: „Sei ein Mann und folge mir nicht nach.“ Und der Suizid seiner 28 Jahre alten guten Bekannten Christiane von Laßberg im Januar 1778, vier Jahre nach Erscheinen des Werthers, brachte Goethe in große seelische Not, zumal die Tote ein Exemplar des Romans in ihrer Tasche gehabt haben soll. Johann Wilke (1998) führt auf diese Erfahrung zurück, dass Goethe den Werther tatsächlich überarbeitete. In der neuen, 1787 veröffentlichten Fassung, ging er stärker auf Distanz zum Helden und machte damit das Suizidmodell weniger attraktiv.
Betroffen reagierte auch Lessing, dessen Schauspiel Emilia Galotti Werthers letzte Lektüre war:
„Wenn aber ein so warmes Produkt nicht mehr Unheil als Gutes stiften soll: meynen Sie nicht, daß es noch eine kleine kalte Schlußrede haben müsste? Ein Paar Winke hinterher, wie Werther zu einem so abentheuerlichen Charakter gekommen; wie ein andrer Jüngling, dem die Natur eine ähnliche Anlage gegeben, sich dafür zu bewahren habe. Denn ein solcher dürfte die poetische Schönheit leicht für die moralische nehmen und glauben, dass der gut gewesen seyn müsse, der unsre Theilnehmung so stark beschäftiget. Und das war er doch wahrlich nicht. […] Also, lieber Göthe, noch ein Kapitelchen zum Schlusse; und je cynischer, je besser!“
Dem Bischof von Derby, Lord Bristol, der Goethe ebenfalls Verführung zum Suizid vorwarf, entgegnete der Autor:
„Und nun wollt Ihr einen Schriftsteller zur Rechenschaft ziehen und ein Werk verdammen, das, durch einige beschränkte Geister falsch aufgefasst, die Welt höchstens von einem Dutzend Dummköpfen und Taugenichtsen befreit hat, die gar nichts besseres tun konnten, als den schwachen Rest ihres bisschen Lichtes vollends auszublasen.“
Die überwiegende Zahl der Leser waren jedoch begeisterte Anhänger des Romans. Vor allem unter den Jugendlichen brach ein regelrechtes Werther-Fieber aus, das den Protagonisten zu einer Kultfigur werden ließ, deren blauen Frack mit Messingknöpfen, gelbe Weste, braune Stulpenstiefel und runden Filzhut man als Werther-Mode imitierte. Es gab die berühmte Werther-Tasse und sogar ein Eau de Werther. Szenen aus „Werthers Leiden“ (dargestellt zum Beispiel von Daniel Chodowiecki) schmückten Tee- und Kaffeekannen, Keksschalen und Teedosen.
Anhänger fand der Roman verständlicherweise unter denjenigen, die glaubten, sich in einer ähnlichen Situation wie Werther zu befinden, und in dem schmalen Bändchen Verständnis und Trost für ihre eigenen Leiden suchten. Hierauf zielt auch der Hinweis des fiktiven Herausgebers im Prolog des Briefromans:
„Was ich von der Geschichte des armen Werther nur habe auffinden können, habe ich mit Fleiß gesammelt, und lege es euch hier vor, und weiß, daß ihr mir’s danken werdet. Ihr könnt seinem Geist und seinem Charakter eure Bewunderung und Liebe und seinem Schicksale eure Tränen nicht versagen. Und du, gute Seele, die du eben den Drang fühlst wie er, schöpfe Trost aus seinem Leiden, und laß das Büchlein deinen Freund sein, wenn du aus Geschick oder eigener Schuld keinen nähern finden kannst!“
Weitere Dokumente zur zeitgenössischen Wirkung
„[Ein] Roman, welcher keinen anderen Zweck hat, als das schändliche von dem Selbstmorde eines jungen Witzlings […] abzuwischen, und diese schwarze Tat als eine Handlung des Heroismus vorzuspiegeln […]. Welcher Jüngling kann eine solche verfluchungswürdige Schrift lesen, ohne ein Pestgeschwür davon in seiner Seele zurück zu behalten, welches gewis zu seiner Zeit aufbrechen wird. Und keine Censur hindert den Druck solcher Lockspeisen des Satans? […] Ewiger Gott! Was für Zeiten hast du uns erleben lassen!“
„Sie halten ihn [den Roman] für eine subtile Verteidigung des Selbstmords? Das gemahnt mich, als ob man Homers Iliade für eine subtile Aufmunterung zu Zorn, Hader und Feindschaft ausgeben wollte. […] Die Darstellung so heftiger Leidenschaften wäre dem Publikum gefährlich? […] Laßt uns also einmal die Moralität dieses Romans untersuchen, nicht den moralischen Endzweck, sondern die moralische Wirkung, die das Leben dieses Romans auf die Herzen des Publikums haben könne und haben müsse. […] Eben darin besteht Werthers Verdienst, dass er uns mit Leidenschaften und Empfindungen bekannt macht, die jeder in sich dunkel fühlt, die er aber nicht mit Namen zu nennen weiß. Darin besteht das Verdienst jedes Dichters.“
„Es wird hier ein Buch verkauft welches den Titel führt, Leiden des jungen Werther usw. Diese Schrift ist eine Apologie und Empfehlung des Selbst Mordes […] so hat die theol. Fakultät für nötig gefunden zu sorgen, dass diese Schrift unterdrückt werde […].“
„Hier aber ist es nicht um kalte moralische Diskussionen, sondern darum zu tun, die Wahrscheinlichkeit zu zeigen, wie ein vernünftiger und sonst schätzbarer Mann bis zu einem solchen Schritte gebracht werden kann. […] Hier aber in einer langen Reihe von Briefen können wir den Charakter desselben nach allen seinen kleinen Bestimmungen so durchschauen, dass wir ihn selbst an den Rand des Abgrunds begleiten. […] Einen einzelnen Selbstmörder rechtfertigen und auch nicht rechtfertigen, sondern nur zum Gegenstande des Mitleids machen, in seinem Beispiele zu zeigen, dass ein allzuweiches Herz und eine feurige Phantasie oft sehr verderbliche Gaben sind, heißt keine Apologie des Selbstmords schreiben.“
„Die schönste Stelle im ‚Werther‘ ist die, wo er den Hasenfuß erschießt.“
19. Jahrhundert
Napoleon bestellte den von ihm verehrten Autor Goethe im Jahre 1808 während des Erfurter Fürstenkongresses zu sich und bekannte ihm gegenüber, dass er den Werther siebenmal gelesen habe und stets bei sich trage.[22] Er fand die unglückliche Liebe sehr ergreifend, die Gesellschaft jedoch sei zu negativ dargestellt.
1834 behauptet Ludwig Tieck in seiner Schrift Das alte Buch und die Reise ins Blaue hinein, dass Werther in den 1830er-Jahren, wenn er ein Zeitgenosse wäre, als kleinlicher, sentimentaler Philister eingestuft würde, „der sich weder für Staat, Menschheit, Freiheit noch Natur begeistern könne, sondern der nur einer armseligen Liebe lebt und stirbt.“
In seiner 1849 veröffentlichten religionsphilosophischen Schrift Die Krankheit zum Tode knüpft Søren Kierkegaard, bereits am Titel der Schrift erkennbar, an Goethes Werther an. Auch für Kierkegaard ist die Verzweiflung eine „Krankheit zum Tode“. Kierkegaard kritisiert, dass Werthers Suizid als Flucht eines Ungläubigen vor der Realität zu bewerten sei. Werther sei kein Glaubender und mache es sich zu leicht, wenn er nach Art eines verwöhnten Kindes in Gott einen „lieben Vater“ sehe, der ihm seinen Wunsch nach Vergebung wohl erfüllen werde.
20. und 21. Jahrhundert
Gerhard Storz charakterisiert 1953 Werther als „Dichter ohne Werk, der […] sein Leben zur Dichtung macht und also Sein und Bild verwechselt“ und dessen Leben zerstört werde, weil er die den Dichter kennzeichnende „Schaffung der Welt aus dem Nichts“ nicht als „Gleichnis“ verstehe.
1980 warnt Leo Kreutzer, seinerzeit Professor für Neuere Deutsche Literatur und Sprache an der Universität Hannover, davor, der „verbreiteten Deutschlehrer-Frage“ auf den Leim zu gehen, „wie Werther wäre zu retten gewesen“: „Kunstfiguren ist nicht zu helfen, es sei denn ästhetisch“, betont Kreutzer. Seine Begründung lautet: „die im Roman aufgehobene Geschichte kennt, im Gegensatz zum ‚Leben‘, keine moralischen Alternativen.“ Werther sei, wie sein „jüngerer Bruder“, Torquato Tasso, eine Figur mit „Gedanken ohne Maß und Ordnung“, deren Schicksal es sei, an „gelassenen Männern“ wie Albert (bzw. Antonio in „Torquato Tasso“) zu scheitern.
Im „Jahrbuch der Psychoanalyse 1996“ bezeichnet Walfried Linden die Figur Werther als „präpsychotische Persönlichkeit“. Werther sei eine „infantile Persönlichkeit, die nicht bereit ist, Verantwortung für ihr Tun zu übernehmen“. Werther sei ein Narzisst, der sich innerlich leer fühle und vergeblich versuche, diese narzisstische Leere durch Arbeit oder durch Lottes Liebe zu füllen.[28] Gerhard Oberlin liefert 2007 eine umfassende Diagnose der Psyche Werthers: Das Krankheitsmodell „Werther“ umfasst eine Reihe von Merkmalen, die vermuten lassen, dass eine narzisstische Symptomatik repräsentiert wird. Dazu gehören neben Schuld- und Minderwertigkeitsgefühlen vor allem Existenzangst, Antriebsschwäche, Unrast, Stimmungsschwankungen, Realitätsverlust, der Drang zum Idealisieren, unerfüllbarer Kreativitätsdrang, Melancholie, Megalomanie, extreme Vulnerabilität, Psychose und (euphorische) Suizidneigung. An dieses psychopathologische Erklärungsmodell knüpft die von Arata Takeda vorgeschlagene Interpretationsmöglichkeit an, dass Werther, gleichsam in quasiautistischer Selbstbespiegelung, nur einen geistigen Briefwechsel mit seinem Freund Wilhelm unterhält: Es sei möglich, dass Werthers Briefe „nie wirklich abgeschickt werden und nur den von ihm im Geiste beschworenen Wilhelm erreichen, der ihm dann wiederum nur im Geiste schriftlich antwortet“.
Marcel Reich-Ranicki erklärt 2002 Goethes Werther durch die Aufnahme in seine „Kanon“-Reihe zu einem derjenigen Romane, die jeder gebildete Deutschsprachige gelesen haben sollte. Richard David Precht hingegen bewertet den Roman als „unglaublichen Kitsch“, als „verlogene Sozialromantik“, „ausgestorbene Thematik.“ Den Roman rechnet er zum „unbrauchbaren Schulwissen“. Bereits 1998 bestreitet Hans-Dieter Gelfert, dass die Sprache und die Darstellungsweise von Goethes Werther „kitschig“ seien: Der Roman sei „eine der gefühlvollsten Dichtungen und dennoch nicht Kitsch“. Differenzierter geht 2005 Jörg Löffler auf die im Kitsch-Vorwurf enthaltene Frage nach der Authentizität der von Werther beschriebenen Gedanken und Gefühle ein: Einerseits lege Werther großen Wert darauf, dass Menschen „natürlich“ seien und ihren Mitmenschen nicht bloß Inszenierungen böten. Andererseits komme das „Schlüsselwort“ Szene in Goethes Roman bei der Beschreibung der eigenen Gedanken und Gefühle Werthers erstaunlich oft vor. „Wie ein perfekter Regisseur seines eigenen ‚Naturtheaters‘ setzt Werther alles, was ihn emotional berührt, buchstäblich in Szene“. Der Text „erzeugt für seinen Helden unaufhörlich (bis zum bitteren Ende) ein oszillierendes ‚Pathos‘ der ‚Angst‘ und der ‚Wonne‘.“
Werther wurde in die ZEIT-Bibliothek der 100 Bücher und auch in die ZEIT-Schülerbibliothek aufgenommen.
Prosa
Der Roman beeinflusste sowohl Form als auch Inhalt vieler weiterer Romane. Einige davon, sogenannte Wertheriaden, greifen auch direkt auf Goethes Werther zurück:
Christoph Friedrich Nicolai verfasste mit Freuden des jungen Werthers einen Angriff auf diejenigen, die in Goethes Werk eine Rechtfertigung des Suizids sahen. Nicolais Werk gewinnt Werther Charlotte und steigt zum vom Glück gesegneten Landbesitzer auf, der sich einer reichen Kinderschar erfreut – was Goethe wiederum veranlasste, einen literarischen Kleinkrieg gegen Nicolai zu beginnen mit dem beißenden Gedicht Nicolai auf Werthers Grabe und mit mehreren diesbezüglichen Anspielungen in den Xenien.
In Thomas Manns Goethe-Roman Lotte in Weimar (erschienen 1939) bezeichnet die Titelheldin Charlotte Buff den bindungsscheuen jungen Goethe als Schmarotzer an ihrem Glück mit ihrem Verlobten und späteren Ehemann Johann [Georg] Christian Kestner. Goethe sei ein von außen kommender Dritter, der „in ein gemachtes Nest das Kuckucksei seines Gefühls“ lege, vernarrt in anderer Leute Verlobtheit.
Bernd Kessens schrieb 1999 den Roman Getanzte Liebe Flamenco. Hier wird ein Großteil der Handlung ins postfaschistische Spanien verlegt, wo sich der Protagonist in eine Einheimische verliebt.
Der 2002 erschienene Roman Zwei hinterm Limes von Peter Untucht, der überwiegend in Wetzlar spielt, nimmt inhaltlich und auch formal (u.a. Briefcharakter, Chronologie, Wahl der Namen) vielfachen Bezug sowohl zum Werthermaterial, als auch – nicht minder ironisch – zu Goethes Aufenthalt in der Stadt.
Werther-Effekt
Die Nachahmungen der Werther-Figur im realen Leben, die sich in Suizidversuchen und Suiziden zeigten, brachten eine Diskussion über Medienwirkungen in Gang, die bis heute geführt wird. Seit den 1970er Jahren befasst sich die Psychologie mit dem Phänomen von „medial vermittelten Nachahmungs-Suiziden“; es ist unter dem Namen Werther-Effekt bekannt.
Als Hörbuch in chinesischer Sprache, in Mandarin, ist Goethes Werther im Download zu erhalten