Goethes Weihnachtsbrief an Kestner

Johann Wolfgang von Goethe an Johann Christian Kestner

Der 1949 in Frankfurt geborene Johann Wolfgang von Goethe hatte 1771 in Straßburg ein juristisches Examen abgelegt, war anschließend nach Frankfurt zurückgekehrt und hatte dort eine Anwaltspraxis eröffnet. 1772 ging er auf Wunsch seines Vaters als Praktikant ans Reichskammergericht nach Wetzlar. Dort traf er auf einen jungen Kollegen, den Legationssekretär Johann Christian Kestner (1741-1800). Mit ihm und dessen Verlobter Charlotte Buff schloss Goethe Freundschaft. Zu Weihnachten 1772 schrieb er Kestner von Frankfurt aus einen Brief, aus dem wir im Folgenden einen Auszug wiedergeben.
Goethe verliebte sich in Charlotte, doch die blieb dabei, den soliden Beamten Kestner zu heiraten. Goethe verarbeitete dieses Erlebnis 1774 in seinem Briefroman „Die Leiden des jungen Werthers“, der ihn in kurzer Zeit über Deutschlands Grenzen hinaus bekannt machte.

Florian Russi

Frankfurt, 25. Dezember 1772

Johann Christian Kestner

Johann Christian Kestner

Christtag früh. Es ist noch Nacht, lieber Kestner, ich bin aufgestanden, um bei Lichte morgens wieder zu schreiben, das mir angenehme Erinnerungen voriger Zeiten zurückruft; ich habe mir Coffee machen lassen, den Festtag zu ehren und will euch schreiben, bis es Tag ist. Der Türmer hat sein Lied schon geblasen, ich wachte drüber auf. Gelobet seist du Jesu Christ. Ich hab diese Zeit des Jahres gar lieb, die Lieder, die man singt; und die Kälte, die eingefallen ist, macht mich vollends vergnügt. Ich habe gestern einen herrlichen Tag gehabt, ich fürchtete für den heutigen, aber der ist auch gut begonnen, und da ist mirs fürs Enden nicht angst.

Der Türmer hat sich wieder zu mir gekehrt; der Nordwind bringt mir seine Melodie, als blies er vor meinem Fenster. Gestern lieber Kestner war ich mit einigen guten Jungens auf dem Lande, unsre Lustbarkeit war sehr laut und Geschrei und Gelächter von Anfang zu ende. Das taugt sonst nichts für die kommende Stunde. Doch was können die heiligen Götter nicht wenden, wenn’s ihnen beliebt; sie gaben mir einen frohen Abend, ich hatte keinen Wein getrunken, mein Aug war ganz unbefangen über die Natur. Ein schöner Abend, als wir zurückgingen es ward Nacht. Nun muss ich dir sagen, dass ist immer eine Sympathie für meine Seele wenn die Sonne lang hinunter ist und die Nacht von Morgen heraus nach Nord und Süd um sich gegriffen hat, und nur noch ein dämmernder Kreis von Abend herausleuchtet. Seht Kestner, wo das Land flach ist, ists das herrlichste Schauspiel. Ich habe jünger und wärmer stundenlang so ihr zugesehen hinabdämmern auf meinen Wanderungen. Auf der Brücke hielt ich still. Die düstre Stadt zu beiden Seiten, der still leuchtende Horizont, der Widerschein im Fluß machte einen köstlichen Eindruck in meine Seele, den ich mit beiden Armen umfaßte.

Ich lief zu den Gerocks, ließ mir Bleistift geben und Papier, und zeichnete zu meiner großen Freude, das ganze Bild so dämmernd warm als es in meiner Seele stand. Sie hatten alle Freude mit mir darüber, empfanden alles was ich gemacht hatte und da war ichs erst gewiss. Ich bot ihnen an, drum zu würfeln, sie schlugens aus und wollen, ich solls Mercken schicken. Nun hängts hier an meiner Wand, und freut mich heute wie gestern. Wir hatten einen sehr schönen Abend zusammen, wie Leute, denen das Glück ein großes Geschenk gemacht hat, und ich schlief ein, den Heiligen im Himmel dankend, dass sie uns Kinderfreude zum Christ bescheren wollen.

Als ich über den Markt ging und die vielen Lichter und Spielsachen sah, dacht ich an euch und meine Buben, wie ihr ihnen kommen würdet, diesen Augenblick ein himmlischer Bote mit dem blauen Evangelio, und wie aufgerollt sie das Buch erbauen werde. Hätt ich bei euch sein können, ich hätte wollen so ein Fest Wachsstöcke illuminieren, dass es in den kleinen Köpfen als ein Wiederschein der Herrlichkeit des Himmels geglänzt hätte. Die Torschließer kommen vom Bürgermeister und rasseln mit den Schlüsseln. Das erste Grau des Tags kommt mir über des Nachbars Haus und die Glocken läuten eine christliche Gemeinde zusammen. Wohl, ich bin erbaut hier oben auf meiner Stube, die ich lang nicht so lieb hatte als jetzt.

J. W. von Goethe

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