Goethe und die deutsche Literatur in China

Von Liu Luyuan

Wie vor fünfzig Jahren stellen heute deutsche Freunde, mit Ausnahme der China-Experten, folgende Fragen: Liest das chinesische Volk gern deutsche Literatur? Welche bekannten Werke werden gelesen? Wurden diese Werke auf dem Umweg über Englisch oder Japanisch übersetzt?

Aber es ist doch so, dass schon vor fünfzig Jahren deutsche Literatur dem chinesischen Volk bekannt war. Lu Xun (Lu Hsün) etwa, der Begründer der modernen chinesischen Literatur, der Deutsch konnte, hatte schon Anfang dieses Jahrhunderts den chinesischen Leser mit deutschen Texten bekannt gemacht.

Werther_4

Gebildete Jugendliche, die sich in der 4. Mai-Bewegung bewährt hatten, diskutierten damals über den Charakter von Werther, (Hauptfigur in dem Briefroman Goethes „Die Leiden des jungen Werthers) und fanden, dass sie selbst das gleiche Schicksal wie Charlotte erlitten – die Unterdrückung durch den Feudalismus.

Der hervorragende romantische Dichter Guo Moruo (Kuo Mo-jo) war es, der diesen berühmten Roman – ein repräsentatives Werk der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts – aus dem Deutschen ins Chinesische übersetzte und dadurch auf viel Sympathie stieß.

Goethe Unterschrift

Zu dieser Zeit gründeten der bekannte Lyriker Feng Zhi und andere Dichter die „Gesellschaft der versunkenen Glocke“, mit der Absicht, Raum für eine neue chinesische Poesie zu schaffen. Sie waren von G. Hauptmanns Werk „Die versunkene Glocke“ angeregt worden. Andere Werke des Dichters, wie „Die Weber“, „Der Biberpelz“ und „Vor Sonnenaufgang“ wurden damals auch ins Chinesische übersetzt.

In den zwanziger, dreißiger Jahren übersetzte Guo Moruo einige lyrische Gedichte von J. W. noch Goethe, die dann großen Einfluss auf die chinesischen Schriftsteller ausübten. „An den Mond“, „Wanderers Nachtlied“, „Mignon“ und andere wurden bei den chinesischen Lesern so beliebt wie manche klassischen chinesischen Gedichte. Außerdem übersetzte Guo Moruo große klassische Dramen von F. von Schiller wie die Wallenstein-Trilogie und „Immensee“ von Theoder Storm. „Immensee“ fand wie „Die Leiden des jungen Werthers“ von Goethe wegen des aktuellen Bezugs zum Kampf gegen den Feudalismus und wegen der vollendeten Form bei vielen jungen Lesern starken Widerhall. „Immensee“ wurde später von dem berühmten chinesischen Roman-Schriftsteller Ba Jin noch einmal neu übersetzt. Zu dieser Zeit kam auch der weltbekannte Kriegsroman von E. M. Remarque „Im Westen nichts Neues“, der als moderne Literatur betrachtet wurde, auf Chinesisch heraus. Dadurch wurde es für chinesische Leser möglich, das deutsche Volk der damaligen Gegenwart besser kennen lernen.

Während der Zeit des Widerstandskrieges gegen die japanische Aggression wurde dann „Faust“, von Guo Moruo übersetzt, veröffentlicht. Das war ein großes Ereignis in der Geschichte des chinesischen deutschen Kulturaustausches.

„Grau ist alle Theorie, und grün des Lebens goldener Baum“, dieser Ausspruch Goethes ermunterte damals chinesische Jugendliche, ihr Leben neu zu überprüfen und einzuschätzen.

Damals wurden auch in Yan’an die Schauspiele „Professor Mamlock“ und „Das Trojanische Pferd“ von F. Wolf von Xiao Shan übersetzt. (Yan’an war damals der Sitz des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Chinas. Von dort aus leitete die KP das chinesische Volk im Widerstandskrieg gegen die japanische Aggression an und später zum Befreiungskrieg). Diese beiden zeitkritischen Stücke, zu denen der antifaschistische Kampf motiviert hatte, wurden mehrmals auf chinesischen Bühnen gezeigt und fanden unter den revolutionären Volksmassen großen Anklang.

So wurde die deutsche Literatur schon Jahre vor der Befreiung erfolgreich bei dem chinesischen Publikum eingeführt. Aber das Ganze blieb doch nur der Eigeninitiative einer winzigen Zahl Übersetzer überlassen. Erst nach Gründung des Neuen China wurde der Büchervertrieb systematisch angegangen, wurden Werke der deutschen Literatur in den Verlagsplan eines staatlichen Verlages aufgenommen. Es ging darum, eine neue Volkskultur zu entwickeln, die man aber nur entwickeln konnte, wenn man von der Weltliteratur, also auch von der deutschen Literatur lernte. An Universitäten und Hochschulen konnte man Germanistik studieren. Viele der damaligen Studenten sind heute auf literalische Übersetzungen spezialisiert. Feng Zhi und andere, schon ältere Germanisten, geben heute Einführungen in die deutsche klassische Literatur, aber bei den jüngeren Germanisten besteht auch großes Interesse an der modernen deutschen Literatur.

Während vor der Befreiung einige Werke nicht direkt aus dem Original, sondern nur auf dem Umweg über eine zweite oder dritte Sprache, übersetzt werden konnten, wurden im Gegensatz dazu nach der Befreiung die meisten Werke direkt nach dem Originaltext übersetzt. Das hat natürlich zu einer eindeutigen qualitativen Verbesserung geführt.

Nach Gründung der VR China wurden Werke von Goethe, Schiller, Heine und anderen planmäßig herausgegeben. Darunter waren die von Guo Moruo verbesserten Übersetzungen von „Faust“, „Die Leiden des jungen Werthers“, „Hermann und Dorothea“ und „Wallenstein“. Außerdem brachte man Märchen der Brüder Grimm, Märchen von W. Hauff, und von A. von Chamisso und anderen sowie das Epos „Nibelungenlied“ auf den Bühnenmarkt und Werke moderner Schriftsteller wie „Buddenbrooks“ von Thomas Mann, „Erziehung von Verdun“ von A. Zweig, „Goya“ von L. Feuchtwagner, „Zeit zu Leben und Zeit zu sterben“ von E. M. Remarque, „Krieg“ und „Trini“ von L. Renn sowie Werke von F. Wolf, B. Brecht und Anna Seghers.

Ende der sechziger Jahre war in der Entwicklung der Kunst und Literatur Chinas ein Stillstand eingetreten. Das war das Ergebnis des damaligen Kulturdespotismus, in diesem Zusammenhang dadurch versucht, dass alles Ausländische durch die Viererband verboten worden war. Ausländische Bücher und somit auch Übersetzungen aus dem Deutschen wurden nicht mehr vertrieben. Die Werke von Goethe, Schiller, Balzac, Dickens und Tolstoi waren aus den Buchhandlungen und Bibliotheken verschwunden. Insbesondere die Jugendlichen, die praktisch an keine Werke ausländischer Schriftsteller herankommen konnten, waren über diesen von der Viererbande verursachten Zustand einer „geistigen Wüste“ verärgert. Erst nach der Zerschlagung der Viererbande durch das chinesische Volk, unter Führung des Vorsitzenden Hua Guofeng, und nachdem man auf dem Gebiet der Kunst und der Literatur die Arbeit wieder aufgenommen hatte, begann man auch wieder mit Übersetzungsarbeiten.

Um den dringenden Bedarf an ausländischer Literatur zu decken, wurde im vorigen Jahr eine Anzahl alter Übersetzungsarbeiten von weltbekannten Werken wieder herausgegeben, darunter „Faust“, „Wilhelm Tell“, „Kabale und Liebe“, „Ausgewählte Gedichte“ von Heine, „Ausgewählte Märchen“ von den Brüdern Grimm, und „Buddenbrooks“ von Thomas Mann. Kurze Zeit später brachte man dann auch „Deutschland, ein Wintermärchen“ von Heine, übersetzt von Feng Zhi, das Epos „Atta Troll“ heraus und Gedichte von Georg Weerth, der von Engels als „erster und bedeutendster Dichter des deutschen Proletariats“ bezeichnet wurde.

CD-Cover

Plangemäß werden auch „Ausgewählte Gedichte“ und „Neue Lieder“ von Geothe, Lessings Dramen „Nathan der Weise“ und „Emilia Galotti“, Goethes „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ und „Wilhelm Meisters Wanderjahre“, „Aus meinem Leben“ und „Dichtung und Wahrheit“, „Effi Briest“ von T. Fontane, „Der Untertan“ von Heinrich Mann, und „Der Zauberberg“ von Thomas Mann erscheinen.

Was die Theorie betrifft, haben chinesische Leser deutsche Schriftsteller größeres Interesse an der klassischen deutschen Ästhetik. Vor kurzem wurden deshalb auch Schriften von Clara Zetkin und F. Mehring veröffentlicht, und bald werden Lessings „Laokoon oder über die Grenzen von Malerei und Poesie“, sowie J. P Eckermanns „Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens“, übersetzt von Professor Zhu Guangqian, der auch Hegels „Ästhetik“ und andere Bücher, die klassische deutsche Ästhetik betreffend, übersetzt hat, erscheinen. Heines „Die Romantische Schule“, der erste Band der „Geschichte der neueren schönen Literatur in Deutschland“ wird auch bald in den Buchhandlungen zu haben sein; „Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland erschien schon in der letzten Zeit. Da das chinesische Volk gerne Heine liest und an der Geschichte der deutschen Kultur interessiert ist, begann man an der Peking-Universität eine „Geschichte der deutschen Literatur“ zu verfassen.

Auf dem Verlagsplan für 1978 standen aber auch moderne Werke, wie Werke von Heinrich Böll, Günter Grass, Siegfried Lenz, Max von der Grün und andere. Die darin angeschnittenen Themen und die verschiedenartigen Stile werden es den chinesischen Lesern ermöglichen, das deutsche Volk besser zu verstehen.

Deutsche Literatur ist in China beliebt, und die Leser hoffen darauf, dass sie künftig mehr von deutschen Schriftstellern zu lesen bekommen. Mit dem Ausbau des Kulturaustausches zwischen China und Deutschland wird dies sicher möglich werden.

                                   (Aus Nr. 2 von „China im Aufbau“, 1979)

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