Goethe in China

Goethe in China

IM PAKT MIT DER WEIMARER KLASSIK Beim Aufbruch ins nächste Jahrtausend beruft man sich in der Volksrepublik auf den „Faustgeist“

Der unvergleichliche poetische Reichtum und die Vieldimensionalität der chinesischen Schriftsprache lassen sich erahnen aus der Schreibweise des Namens Goethe: Lautmalerisch ist er gebildet aus den Silben GE und DE, die aber als Zeichen ihrerseits auch die Bedeutung von „Lied“ (de) beziehungsweise „Moral/Tugend“ und gleichzeitig „deutsch“ (de) haben; wer also in China „Goethe“ sagt beziehungsweise die beiden Schriftzeichen liest, der sagt/liest auch mit: „deutscher Liederdichter“ oder „deutscher Tugendsänger“. Am Vorabend – und das wohl nicht ganz zufällig – der pompösen Inszenierung des 50. Jahrestages der Volksrepublik wurde auch „Goethe in China“ gefeiert: mit einem großen Festakt in Beijing, bei dem kulturelle Prominenz bis hin zur stellvertretenden Kultusministerin erschien und einem vier-Tages-Symposium chinesischer Goethe-Kenner.

Im Zuge der Revolution von 1919, mit der die Republik begann, entdeckten viele junge Intellektuelle den Werther als ein Stück Literatur, das ihrer aufrührerischen Subjektivität Sprache und Ausdruck verlieh – es kam 1922 zu einem regelrechten kleinen „Werther-Boom“ (inzwischen hat es mindestens sieben Übersetzungen gegeben!), der zu einer breiten Rezeption auch weiterer Werke führte: Die erste von vier Faust-Übersetzungen erschien 1926, die zweite 1935 von Chinas bedeutendstem (auch politisch engagierten) Dichter Go Moruo, Wilhelm Meister, Reineke Fuchs, Dichtung und Wahrheit, die Eckermann-Gespräche – alles erschien bald danach in mehrfachen Übersetzungen.

Das Goethe-Jahr 1932, in Deutschland im Schatten des drohenden Nazismus begangen, stand in China im Zeichen der japanischen Aggression vom Jahr zuvor, die den Zweiten Weltkrieg einleitete – und es wurde als kultureller Protest gegen die Erniedrigungen und als Manifestation des Selbstbewußtseins chinesischen Geisteslebens gleich in mehreren Städten – Beijing, Shanghai, Kanton – mit Rezitationen, Vorträgen, Musikveranstaltungen gefeiert; Zeitungen und Zeitschriften brachten Sonderseiten und Festschriften, und der feigen Kuomintang-Regierung (und mit ihr liierten Intellektuellen), die vor den Japanern zurückgewichen war, wurde der „politische Goethe-Spiegel“ vorgehalten: der habe 1806 sein Weimar, das von den französischen Truppen geplündert wurde, nicht im Stich gelassen, sondern sich furchtlos „wie ein moralischer Politiker verhalten.“

In der Volksrepublik hatte es Goethe nicht leicht: Einerseits war zwar die DDR ein wichtiger europäischer Bündnispartner und ermöglichte den Aufbau einer chinesischen Germanistik – insbesondere Leipzig wurde zu einem wichtigen Partner, und bis heute haben viele chinesische Germanisten von dort ihre prägende Ausbildung und Deutschland-Beziehungen – aber als vormals populärster ausländischer Dichter wurde Goethe abgelöst und verdrängt von den großen Russen, aber auch von Shakespeare oder Balzac. Jedoch gab es bald darauf im Kontext der Konsolidierung nach dem Jahrzehnt der katastrophalen „Kulturrevolution“ (1966 – 1976) und die individualistisch-idealistische Demokratie-Bewegung von 1989 antizipierend, wieder einen Goethe-Boom: 1982 erschien eine neue Werther-Ausgabe – und verkaufte auf Anhieb mehr als eine Million Exemplare, der bis heute weitere Auflagen folgten.

Zwar ist Goethe deshalb noch lange nicht ein Autor für die große Menge – aber in einem Teil der Bildungselite ist seine Präsenz unbestreitbar und mehr als nur marginal: Anläßlich der großen Gedenkfeier in Beijing wurden dem deutschen Botschafter und dem Direktor des Goethe-Instituts die ersten Exemplare der neuen, in einem Staatsverlag erschienen 10bändigen Werkausgabe überreicht – eine Sammlung von Übersetzungen aus drei Generationen chinesischer Goethe-Forschung. Zur gleichen Zeit erscheint – davon völlig unabhängig – eine weitere 14bändige Ausgabe, überwiegend aus Neuübersetzungen, während eine ältere achtbändige Ausgabe noch immer auf dem Markt ist. Und da im heutigen China der Markt, und nur der Markt zählt, gibt es offensichtlich genügend Bedarf und Interesse (wobei natürlich die Tausender-Auflagen vor dem Hintergrund von einer Milliarde Menschen dieses „Marktes“ gesehen werden müssen).

„Goethe in China“ heißt heute eigentlich „Faust in China“. Auf der Festveranstaltung klang das bereits an: „Das Dichtdrama Faust ist wahrscheinlich sein typischstes und größtes Werk. Mit Anstrengungen Zeit seines Lebens hat er das literarische Muster Faust geschaffen, ein Kämpfer, der die Dunkelheit des Mittelalters durchbrechend dem neuen Zeitalter entgegenging … Jetzt, wo man am Ende des 20. Jahrhunderts steht, ist das uralte Thema Faustisches Vergnügen bestätigt worden… Wir können jene faustischen Vergnügen recht deutlich spüren, da weltumwälzende Veränderungen in China vollzogen sind, die die großangelegte Schaffung der Kunstinsel durch Faust völlig übertraf. Die Intelligenz und Weisheit der Chinesen finden gerade darin ihren Ausdruck, dass wir uns nie mit dem bereits Erreichten abfinden. Unsere Ziele des Kampfes für die nächste Zukunft wurden bereits ins künftige 21. Jahrhundert hinein erstreckt, während wir mit unseren langfristigen Bemühungen die Vollendung der Einheit und des Aufschwungs des sozialistischen modernen Landes beim 100. Jahrestag der Gründung der Republik anstreben. Dann werden spätere Generationen den 300. Geburtstag von Goethe feiern. Unsere Erinnerung an diesen großen Literaten und Denker wird mit dem Aufbau unseres Landes einhergehend dem maßlosen Glanz entgegengehen.“ Das wissenschaftliche Symposium der Goethe-Forscher hatte den Faust unbeabsichtigt aber eben nicht zufällig zum geheimen Leitthema: Faust der Humanist, der Architekt der Zukunft; der Städtebauer und Umgestalter der Landschaft, der gigantische Dämme errichten läßt und die Natur durch Beton zähmt: in China, unter chinesischen Intellektuellen, ist das „Faustische“ ganz und gar positiv besetzt.

Paradoxerweise: Denn in der „Kulturrevolution“, unter der das Land und sie insbesondere schwer gelitten haben, dieser Alptraum gewalttätiger Radikalität, hatte in Zhang Chunqiao, einem der berüchtigten „Viererbande“ (der einzige übrigens, der nicht bereute, sich durch Schweigen „verteidigte“ und noch im Gefängnis sitzt), einen Ideologen, der erklärt hatte: China brauche nur zwei Werke der großen Literatur, den klassisch-historischen Roman Der Traum von der roten Kammer und den Faust. Und so wie wir heute in Deutschland zu lernen beginnen, den Schlußakt des „Zweiten Faust“ zu lesen, nämlich als ein totalitäres Unterwerfungsprojekt von Mensch und Natur, das in Zerstörung und Selbstzerstörung endet, hatte dieser Pol-Pot-Verwandte auch recht: China war damals auf eben diesem Wege der Zerstörung seiner eigenen Geschichte, seiner spirituellen Identität, seiner „Enthistorisierung“, um mit einem „großen Sprung nach vorn“ sich zu modernisieren. Menschenopfer mussten bluten, Nachts erscholl des Jammers Qual; Meerab flossen Feuersgluten, Morgens war es ein Kanal, berichtet Baucis über Fausts Modernisierungswerk – 20 bis 50 Millionen Menschen sollen dem Großen Sprung und der Kulturrevolution zum Opfer gefallen sein. Dieser Preis war Mao und der „Viererbande“ nicht zu hoch – kein Wunder, dass jener Zhang sich im Faust wiedererkannte.

Aber das Projekt ist mit seinem Sturz und dem seiner Mitverantwortlichen alles andere als aufgegeben – nur die Methoden, nicht die Ziele sind in China beziehungsweise bei den Intellektuellen diskreditiert. „Heute sieht man im Faust-Geist eine von dem Tatgeist getragene aktive, lebensfrohe Weltanschauung, mit der die traditionelle chinesische Gesinnung, die von Genügsamkeit und Konservatismus gekennzeichnet ist, ausgeglichen beziehungsweise korrigiert werden soll“, stellte ein Symposiumsreferent fest. Und ein anderer: „Was Faust erfreut, ist nicht das Verwirklichtwerden der Ideale, sondern der gefundene richtige Weg zur Verwirklichung: Arbeit.“ Buchstäblich jeden Tag spielen sich in den großen Städten Philemon-und-Baucis-Tragödien ab: Menschen werden rücksichtslos aus ihren einfachen Behausungen – in Beijing aus den historischen „Hutongs“, in den Familien und Wohngemeinschaften oft seit einigen hundert Jahren leben – vertrieben und „umgesetzt“ in neue Wohnsilos, meist an den Peripherien, während an deren Stelle gigantische Banken-, Hotel- und Einkaufspaläste entstehen. Die Massenumsiedlungen im Zuge des Yangtse-Staudammbaus haben, auch wegen der dramatischen ökologischen Konsequenzen, international mehr Protest hervorgerufen, als im Lande selbst. Und wenn eine Großstadt wie Lijang in der Provinz Yunnan nach dem katastrophalen Erdbeben von 1996 heute bereits, nach drei Jahren!, völlig neugebaut wiedererstanden ist – und zwar nun mit sechsbahniger Hauptstraße und modernsten Hochhäusern und Ladenpassagen (die noch weitgehend leer stehen), dann sind die Chinesen, auch die kritischen, verständlicherweise stolz auf diese technische und ökonomische Leistung. Dass dafür der Preis einer beispiellosen Umweltzerstörung bezahlt wird, dass in Beijing der Straßenverkehr durch zu viele Autos völlig paralysiert ist und die kombinierte Luftverschmutzung derartige Ausmaße angenommen hat, dass die Führung wenigstens zu den Staatsfeiern die Drosselung der Industrieproduktion angeordnet hat, damit der Himmel zu diesem Anlass wieder sichtbar wird, das alles – in Fausts selbstzerstörerischem Herrschaftsprojekt der Moderne von Goethe mit bestürzender Klarheit antizipiert – scheint als Preis für Fortschritt und Chinas Aufstieg zur respektierten Weltmacht akzeptiert zu werden. Uns deutschen Teilnehmern am Goethe-Symposium in Kunming ist es kaum gelungen, die enthusiastischen Faust-Interpretationen zu erschüttern und eine kritische Sichtweise dieser großen Parabel der Moderne zu vermitteln. Eher im Gegenteil: Der Goethe-Übersetzer und Herausgeber der neuen 14bändigen Werkausgabe, Yang Wuneng, möchte den „Faustgeist“ geradezu noch erweitert sehen um die „guten menschlichen Eigenschaften“, die Faust besitze: „In China kann man den Faustgeist so allseitig und vorbehaltlos interpretieren nur unter der Voraussetzung, dass der Humanismus nicht mehr als bürgerlich-reaktionär verpönt, sondern rehabilitiert worden ist. Heute ist es schon an der Zeit, den Faustgeist neu zu interpretieren“ – eben als Humanismus.

Diese Lesart läßt sich zwar für den Faust kaum halten, aber ihr zugrunde liegt gleichwohl etwas wiederum sehr Bewegendes zum Thema „Goethe in China“: Eben die Berufung auf einen Humanismus, der selbst geistesgeschichtlich in China keine Tradition hat. Das liegt unter anderem darin, dass ja der europäische Humanismus aus dem Kampf gegen die Vorherrschaft der christlichen Kirche und ihrer Erlösungstheologie hervorgegangen ist, die China und der chinesischen Religiösität völlig fremd sind.

Ekkehard Krippendorff Der Freitag 19.10.1999

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