Die Geheimnisse der Peking-Oper. Mai Lafang und Bertolt Brecht

Das Geheimnis des V-Effekts.
Die Kunst des Mei Lanfang begeisterte in den zwanziger und dreißiger Jahren die ganze Welt. 1935 erlebten Bertolt Brecht und Erwin Piscator in Moskau den Star der Peking-Oper. Sein Auftritt inspirierte Brechts Theater neu.

In den letzten Lebensjahren noch hing ein chinesisches Rollbild neben Bertolt Brechts Bett, die Legende von der Entstehung des Buches Taoteking auf dem Weg des Laotse in die Emigration gehört zu den schönsten Balladen des 20. Jahrhunderts, und mit seinem Lehrstück „Der gute Mensch von Sezuan“ werden nach wie vor die Schüler gequält. Bertolt Brecht faszinierte alles Chinesische, die Kunst und die Philosophie und das fernöstliche Theater sowieso. Zu denen, die ihn dabei inspiriert haben, gehört ein Mann, der in den zwanziger und dreißiger Jahren ein Weltstar war, zu vergleichen nur mit Josephine Baker oder Charlie Chaplin der aber anders als diese beiden hierzulande völlig vergessen ist: der geniale Schauspieler der Peking-Oper Mei Lanfang.

Brecht sah ihn 1935 bei einem großen Bühnenfestival in Moskau, als Mei mit seinen Auftritten die internationale Theaterelite mesmerisierte.

Und es ist wohl keine Spekulation, wenn man feststellt, dass Brechts Überlegungen zum V-Effekt hier für ihn selbst an Leben und Vorstellung gewannen.

Der berühmte V-Effekt das V steht für Verfremdung sollte das Theater aristotelischer Tradition aufheben und das Schlüsselelement eines neuen epischen Theaters sein, in dem psychologisches Spiel durch parabelhafte Zuspitzung ersetzt wird. Statt in seiner Rolle aufzugehen, hat sich der Schauspieler ihrer bewusst zu bleiben – statt durch Einfühlung den Zuschauer zur bloßen Identifikation mit dem Bühnenhelden einzuladen, soll seine Kunst qua Distanz die menschlichen Verhaltensweisen und gesellschaftlichen Verhältnisse aufklären. In Moskau wird Brecht auch die Theorien des russischen Formalisten Viktor Schklowskij kennen gelernt haben, der bereits 1916 von Verfremdung gesprochen hatte. Brecht ging wie immer eklektisch vor, als er seinen V-Effekt entwickelte. Das nichtillusionistische, auf einen Kanon von Gesten reduzierte Spiel Mei Lanfangs musste ihn daher, in einer Phase der Suche, gleich begeistern.

In jener Zeit hatte Mei den Zenit seines Weltruhms erreicht – seine Vita stand in allen Illustrierten. Zur Welt gekommen war er 1894 in Peking. Schon Großvater und Vater dienten am kaiserlichen Hof in der Peking-Oper. Beide brillierten als männliche Darsteller von Frauenrollen (dan), da Schauspielerinnen wiewohl früher auf Chinas Bühnen durchaus zugelassen während der Herrschaftszeit der mandschurischen Qing-Dynastie (1643 bis 1911) nicht auftreten durften.

Großvater Mei war der Lieblingskünstler der berüchtigten Kaiserinwitwe Tsu-hsi gewesen, der nach ihrem Tod am 15. November 1908 zur Stunde der Ziege das Kind Pu Yi als Herrscher folgte, Chinas letzter Kaiser.

Bereits im Alter von acht Jahren beginnt Mei Lanfang das Training als dan. Mit elf steht er in Peking auf der Bühne, und 1913, im Jahre 2 der chinesischen Revolution, spielt er zum ersten Mal in Shanghai. Es sind die Zeitungen der internationalen Hafenstadt, die ihn zum Star machen.

Ende Dezember 1911 hat man in Nanking, der südlichen Hauptstadt, Sun Yatsen zum ersten Präsidenten der Republik gewählt. Der junge Mei sympathisiert mit der neuen Zeit. Jubelnd empfängt seine Theatertruppe in Peking, der nördlichen Hauptstadt, wo Pu Yi Mitte Februar 1912 abdankt, die Soldaten des Aufstands. Schon vor der Revolution soll Mei sich, ein Fall von zivilem Ungehorsam, den Zopf abgeschnitten haben, der allen Chinesen von den mandschurischen Kaisern verordnet war.

Der Arzt und Revolutionsführer Sun Yatsen ist der Held der Stunde. In der aufstrebenden Glitzer- stadt Shanghai hält er bald nach dem Sturz des Kaisers eine programmatische Rede. Sie müssen die Basis kräftigen für die Zukunft unseres Volkes, fordert er vor den versammelten Theaterkünstlern. Dass sie überhaupt ernst genommen werden, ist neu.

Denn Schauspieler rangierten, ob man ihre Künste nun offiziell schätzte oder nicht, im sozialen Gefüge des kaiserlichen China ganz unten und waren, ähnlich wie ihre europäischen Kollegen zu Zeiten des Ancien Régime, zahlreichen Schikanen ausgesetzt. Jetzt aber weht der Wind der Freiheit, und Mei ergreift die Gelegenheit, um seine eigene Operntruppe zu gründen.

Die Presse bleibt ihm gewogen. Eine Viertelmillion Shanghaier wählen ihn 1917 in einer Zeitungsumfrage zum König der Schauspieler. 1919 geht er zum ersten Mal auf Tournee ins Ausland, nach Japan, wo viele der chinesischen Revolutionäre im Exil gelebt und studiert haben. Er ist der erste chinesische Schauspieler, der je sein Land verlassen hat. 1920 dreht er in Shanghai den ersten Film. Auch der wird ein Erfolg, das Glück bleibt ihm treu.

Und Mei bleibt der Peking-Oper treu. Die stilisierten vier Elemente, Gesang und Gestik, Sprechen und Akrobatik, müssen in ihrem Zusammenwirken perfekt beherrscht werden. Es ist eine traditionssatte Kunst: Ihre Anfänge sind in der Ming-Dynastie (1368 bis 1644) und früher zu finden. 1790 hatte Kaiser Qianlong zu seinem 80. Geburtstag vier Truppen eingeladen. Durch diesen Auftritt am Hofe wurde das Genre, das bis dahin mehr ein Volksvergnügen gewesen war, erstmals zum Staatstheater. Selbstverständlich hatte man auch gleich eine Zensurbehörde eingerichtet, um die Libretti unter Kontrolle zu halten.

Der Leiter des Opernamtes, ein wichtiger Mann, berichtete ausschließlich an den Kaiser. Schon zur Mitte des 19. Jahrhunderts gab es 40 Opernhäuser allein in Peking. In den Stücken ging es um das, worum es in Opern immer geht: um Schicksal, Krieg und Liebe, um Helden, Gauner, schöne Frauen.

Die Republikaner fördern die Peking-Oper, sie bleibt das eigentliche chinesische Nationaltheater. Die traditionellen Werke werden weiter gespielt, neue Stücke im alten Stil kommen dazu.

Chaplin lädt Mei ein, Eisenstein filmt seine Auftritte.

Auf anderen Bühnen Chinas feiert derweil westliches Sprechtheater Erfolge. Mei besucht solche Aufführungen in Shanghai, integriert Elemente in sein Spiel, spielt sogar mit. Die Texte werden umgeschrieben, zum Beispiel eine Bühnenfassung von Onkel Toms Hütte in der chinesischen Version wagen die Sklaven selbstverständlich den Aufstand. Der Noraismus, ausgelöst durch Henrik Ibsens meistdikutiertes Drama Nora von 1879, begeistert die Zuschauer und vor allem die Zuschauerinnen. Das Stück bleibt populär. So reüssiert im Shanghai der dreißiger Jahre ausgerechnet Jiang Qing, die spätere Frau Maos und Anführerin der berüchtigten Viererbande, in der Titelrolle.

Die junge Republik schickt ihren Star Mei Lanfang 1924 erneut auf Reisen und wieder nach Japan, um das aufstrebende China zu repräsentieren. Im selben Jahr noch besuchen ihn Rabindranath Tagore, der bengalische Dichterfürst und Nobelpreisträger, und der Kronprinz von Schweden.

Zu dieser Zeit lebt auch der russische Schriftsteller Sergej Tretjakow in Peking, als Lehrer für Russisch an der Universität, und lernt Meis Theater kennen. Der Avantgardist und Egofuturist bleibt skeptisch, die Peking-Oper sei für Chinas Massen nichts als eine ästhetische Narkose. Doch zehn Jahre später, 1935, beim großen Moskauer Theaterfestival, da in der Sowjetunion der Sozialistische Realismus ausgebrochen ist, sieht der bereits als Formalist geächtete Tretjakow in Mei Lanfang einen willkommenen künstlerischen Verbündeten und holt den Staatsgast feierlich vom Bahnhof ab

Auch die USA werben um die werdende Weltmacht China. Im Januar 1930 reist Mei von Shanghai nach Amerika. Die Tournee wird zum Triumphzug – die Wochen in New York geraten zum Spektakel. Im Forty-ninth Street Theatre sind nur vierzehn Tage geplant. Doch schon nach dem ersten Auftritt am 16. Februar müssen drei weitere Wochen im viel größeren Nationaltheater reserviert werden. Es gibt zahllose Empfänge und Feste zu Meis Ehren, die New Yorker Presse steht Kopf.

Chicago, Seattle, San Francisco (hier begleitet ihn der Bürgermeister persönlich in der Limousine vom Bahnhof zur Stadt), Los Angeles, San Diego und Honolulu auf Hawaii sind weitere Stationen. In Hollywood lebt Mei auf Fairford, dem Anwesen von Douglas Fairbanks und Mary Pickford. Der Hollywood-Regisseur Cecil B. DeMille und Charlie Chaplin laden ihn ein – Filmpläne zerschlagen sich jedoch.

Die Tournee hat Mei endgültig zu einem Weltstar gemacht. Bereits 1931 kommen Fairbanks und Victor Fleming nach Peking und bitten Mei und dessen Familie für ihren Film „In achtzig Tagen um die Welt“ mit Douglas Fairbanks vor die Kamera – Mei besorgt den Gästen in Peking ein Haus.

Vier Jahre später dann die Reise nach Europa, nach Berlin, London, Paris, zuvor jedoch nach Moskau, zum großen Theatertreffen. Russlands legendäre Regisseure jener Zeit, Sergej Eisenstein, Wsewolod Meyerhold und Konstantin Stanislawski, gehören zu den Gastgebern, Erwin Piscator aus Berlin ist an der Organisation beteiligt, und der englische Theatervisionär Edward Gordon Craig 1912 wirkte er bei Stanislawskis Moskauer Hamlet mit wird als Ehrengast begrüßt. Auch von ihm erhofft sich die sowjetische Theaterwelt Schutz in der stalinistischen Bedrängnis.

Mehrfach trifft Mei Eisenstein, der eine seiner Aufführungen mit großem Aufwand filmt. Das Material gilt als verloren. Eisenstein schenkt Mei seine Schrift The Principles of Film Form (Dramaturgie der Filmform), veröffentlicht 1929 von der englischsprachigen, in der Schweiz erscheinenden Zeitschrift Close Up, mit der Widmung: „Für Mei Lanfang, den größten Meister der Form, mein wichtigster Artikel zu diesem Thema“- ein gefährlich ironischer Satz zu einer Zeit, da die Verdächtigung, Formalist zu sein, in ein Todesurteil münden kann.

Meis Auftritt wird in Prawda und Iswestija (Karl Radek schreibt persönlich) gefeiert, begleitet von Fotos, die allerdings bemerkenswert für einen Darsteller weiblicher Rollen immer nur einen sehr männlichen, zivil gekleideten Mei zeigen. Es scheint, als wolle man einer Gesellschaft, in der sich der Stählerne zum Gott erhoben hat, keinen Mann in der Kunst-Gestalt einer Frau zumuten. Dabei soll Stalin selbst, von seiner Loge im Theater aus, Meis triumphalen Auftritt miterlebt haben.

Meis Gastgeber Meyerhold fällt schon drei Jahre später in Ungnade – 1938 wird sein Theater geschlossen. 1939 kann er noch einmal auf einem Allunionskongress der Theaterdirektoren sprechen. Andrej Wyschinski, der berüchtigte Chefankläger der Schauprozesse, ist bezeichnenderweise als Hauptredner vorgesehen. Man feiert Meyerhold mehrfach mit Ovationen. Der Beifall macht die Häscher erst recht unerbittlich: Kurz darauf wird der verbrecherische Formalist verhaftet und gefoltert (Meyerhold an Stalins Außenminister Molotow, der nie antwortet: Ich wurde hier geschlagen ich, ein kranker, alter Mann). Seine Frau, die schöne Schauspielerin Sinaida Reich, wird auf bestialische Weise und so demonstrativ in der gemeinsamen Wohnung ermordet, dass alle es erfahren müssen. Am 2. Februar 1940 bringen Stalins Schergen dann auch Meyerhold um.

Bertolt Brecht, der just aus Deutschland ausgebürgert worden ist, hat 1935 in Moskau wohl auf Empfehlung seines Freundes Tretjakow die Aufführung Meis besucht. Er sieht das Stück „Die Rache des Fischers“.

Zum ersten Mal erlebt Brecht traditionelles chinesisches Theater auf der Bühne: Ein armer Fischer und seine Tochter töten einen tyrannischen, willkürlichen und brutalen Großgrundbesitzer. Das Stück kommt ganz ohne Bühnenbild aus, es ist ein Spiel nur aus Bewegungen und Gesten und Musik.

Das Erlebnis beginnt Wirkung zu entfalten zunächst in den Bemerkungen über die chinesische Schauspielkunst, die 1936 in London als The Fourth Wall of China: An essay on the effect of disillusion in the Chinese theatre erscheinen. 1937 arbeitet Brecht die Bemerkungen um zu dem Essay Verfremdungseffekte in der chinesischen Schauspielkunst.

In Ost-Berlin träumt Brecht davon, nach China ins Exil zu gehen

Der westliche Schauspieler, schreibt er hier, bringe den Zuschauer dazu, sich in ihn, den Schauspieler, einzufühlen, und verwende alle Kraft darauf, sich selbst in die darzustellende Person möglichst restlos zu verwandeln. Der chinesische Künstler hingegen lehne genau das ab. Von vornherein beschränkt er sich darauf, die darzustellende Figur lediglich zu zitieren. Aber mit welcher Kunst tut er das! Welcher westliche Schauspieler könnte wie der chinesische Schauspieler Mei Lanfang, mit einem Smoking angetan, in einem Zimmer ohne besonderes Licht, umgeben von Sachverständigen, die Elemente seiner Schauspielkunst zeigen? Etwa König Lears Verteilung des Erbes oder das Auffinden des Taschentuchs durch Othello? Es sind Passagen wie diese, die zeigen, wie sehr das chinesische Erlebnis Brecht beeindruckt und ihn darin bestätigt hat, das neue Theater müsse die Illusion, den bürgerlichen Budenzauber, endlich hinter sich lassen.

1941 rettet sich Brecht aus dem Exil in Helsinki nachdem Finnland ein Bündnis mit Hitlers Reich eingegangen ist über Leningrad und Moskau bis nach Wladiwostok. Freunde in Moskau haben ihm geraten, schnell weiterzureisen, da Krieg drohe. Am 13. Juni, neun Tage vor dem Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion, geht sein Schiff von Wladiwostok nach Amerika.

Hier, im kalifornischen Exil, erinnert sich Brecht wieder an Mei: In dem klösterlichen Gang am Haus, neben der Lampe / Ist der arizonische Kaktus gepflanzt, der mannshohe, der alljährlich / Eine Nacht lang blüht, dieses Jahr / Zu dem Donner der manövrierenden Schiffskanonen / Mit faustgroßen weißen Blumen von der Zartheit / Eines chinesischen Schauspielers, heißt es in seinem autobiografischen Langgedicht Garden in Progress aus dem Jahr 1944.

Da wird der Krieg die Welt noch ein schreckliches Jahr lang in Atem halten. Doch auch danach verfolgen die Schrecken des Jahrhunderts Brecht und Mei Lanfang weiter. Kaum und nicht ohne Zögern zurückgekehrt nach Deutschland, nach Berlin-Ost, wird der Dichter schon bald in eine neue bedrohliche Formalismusdebatte verwickelt.

Am 17. März 1951 noch herrscht Stalin erklärt das ZK der SED in ihrem Programm unter dem Titel Kampf gegen den Formalismus in Kunst und Literatur für eine fortschrittliche deutsche Kultur den Sozialistischen Realismus zur verbindlichen Schaffensmethode. Gleich im zweiten Abschnitt gibt es Zitate von Stalins Kulturkämpfer Andrej Schdanow, aus der berüchtigten Rede von 1934. Auf derselben Sitzung wird Brechts Stück Lukullus (mit der Musik von Paul Dessau) heftig angegriffen, das erste Opfer. Brecht lenkt ein, ändert, glaubt den stinkenden Atem der Provinz zu spüren. Er träumt davon, nach China ins Exil zu gehen.

Dort erlebt Mei Lanfang noch einmal eine große Zeit und die ersten Vorboten kommenden Terrors. Mit Glück hat er den Krieg überstanden, das schreckliche Besatzungsregime der Japaner und die kommunistische Revolution. 1937 war er nach Hongkong geflohen, in die britische Kronkolonie, hatte sich einen Bart wachsen lassen und sich fortan geweigert zu spielen. Die grauenhaften Massaker der japanischen Armee nach dem Einmarsch in Chinas damalige Hauptstadt Nanking im Dezember 1937 verstörten Mei zutiefst. Vor Pu Yi, Kaiser von Tokyos Gnaden in Japans Vasallenstaat Mandschukuo, wollte er um keinen Preis auftreten.

1949 nun steht er mit Mao in der ersten Reihe auf der Tribüne des Tiananmen-Platzes in Peking, als die Volksrepublik ausgerufen wird. Er trägt ein ähnliches Gewand, wie Brecht es im entfernten Berlin zur Mode machen sollte. Meis berühmter Librettist allerdings, Qi Rushan, flieht mit den nationalchinesischen Truppen nach Taiwan. Schon 1952 reist der Schauspielkünstler, versöhnungsbereit, in das Land des ehemaligen Kriegsgegners, nach Japan. Nur Mei kann das wagen.

1951 richtet man ihm in Peking eine nationale Akademie für traditionelle chinesische Oper ein, 1952 wird ein großer Dokumentarfilm über sein Leben produziert.

Mei ist anerkannt, reist ins Ausland, wird hofiert. Dennoch spürt er, wie auch in China die Diktatur nach dem Theater greift – die Tage seiner Kunst sind gezählt. Unumstritten ist Mei Lanfang nach 1949 nie gewesen. Immer wieder gibt es harsche Proteste: Auf der Opernbühne tummelten sich zu viele Geister und Ungeheuer, auch sei die Sprache zu künstlich.

Mei, aller Kritik ausweichend, lenkt erst einmal ein und bildet von 1960 an keine Männer mehr für Frauenrollen aus. Von Verfolgungen bleiben der bald Siebzigjährige, seine Frau und seine vier inzwischen erwachsenen Kinder jedoch verschont. Maos Intimus Zhou Enlai, seit 1949 Premier, ein Kenner und Liebhaber der Peking-Oper, der wohl ab und zu selber als dan-Darsteller auftrat, schützt Mei bis zu dessen Tod im August 1961.

Noch im selben Jahr findet ein Festival mit Meis Filmen in einem Dutzend Städten statt. Chinas bekanntester Brecht-Regisseur Huang Zuolin feiert Brecht und Mei Lanfang in einem großen Theaterforum in Kanton. Doch wieder kommt die Forderung auf, Stücke mit Generälen und Konkubinen, Geistern und Eroberern von der Bühne zu verbannen.

Die Roten Garden fallen über Meis Familie her

Fünf Jahre später ist es so weit. In den barbarischen Wirren der Kulturrevolution geht auch die traditionelle Peking-Oper unter. Über 3000 Ensembles in ganz China werden aufgelöst. Stattdessen triumphieren die fünf Modellopern nach dem Konzept von Maos Ehefrau Jiang Qing, der Nora aus Shanghai: totes Agitprop-Theater mit endlosen Massenszenen und süßlich-hymnischer Musik.

1965 übergibt die schon bedrängte Familie Meis Haus und Archiv an den Staat. Ein Jahr darauf schlagen die Roten Garden zu. Meis Frau werden die Haare geschoren. Der jüngste Sohn, Mei Baojiu, Schauspieler in der vierten Generation, hat Glück. Er duckt sich weg und überlebt als Beleuchter. Viele tausend Künstler werden in jenen Tagen gefoltert und ermordet.

Erst 1976 ist der entsetzliche Spuk vorbei. Mao stirbt, Jiang Qing und ihre Viererbande kommen in Haft. Und keine vier Jahre später gibt es schon wieder 3000 neue Operntruppen! 1986 wird Meis altes Pekinger Hofhaus ehrfürchtig in ein Museum umgewandelt.

Sein Sohn Mei Baojiu ist längst auf das Theater zurückgekehrt und heute ein bekannter dan-Darsteller. Vor wenigen Wochen, im April, begleitete er ein chinesisches Ensemble nach Berlin, spielte allerdings selbst nicht mit. Wir sind uns sicher: Brecht hätte ihn gern auf der Bühne erlebt.

 

Der Autor ist Kulturhistoriker und Direktor des Martin-Gropius-Baus in Berlin Von Gereon Sievernich
10. August 2006 Quelle: DIE ZEIT, 33/2006

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