Goethes „Die Leiden des jungen Werther“ wurde im China der 20er Jahre ähnlich euphorisch aufgenommen wie 150 Jahre früher in Europa. Die Identifikation der chinesischen Jugend mit Goethes melancholischen Protagonisten führte zu einer Selbstmordwelle.
Deutsche Literatur fand 1919, zur Zeit der 4.Mai-Bewegung, erstmals größere Beachtung in China. Einige Autoren waren in geringerem Maße auch vorher bekannt. Eine herausragende Stellung nahmen Goethe und Schiller ein.
Bereits 1902 wurde Goethes „Die Leiden des jungen Werthers“ erstmals auszugsweise übersetzt. Die Publikation erfuhr aber keine nennenswerte Reaktion der Öffentlichkeit, da der Text nur wenigen zugänglich war. Erst als Guo Moruo 1922 „Die Leiden des jungen Werthers“ neu und vollständig übersetzte und publizierte, wurde das Buch zu einem großen Erfolg bei den Intellektuellen der 4.Mai-Bewegung. Goethes Briefroman erreichte eine starke Resonanz und wurde von einem breiten Publikum gelesen. Im China der 20er und 30er Jahre gab es eine ähnlich große Werther-Begeisterung wie 150 Jahre früher in Europa. „Die Leiden des jungen Werthers“ waren wahrscheinlich das am häufigsten gelesene Werk eines deutschen Dichters in China und auch der am häufigsten ins Chinesische übersetzte Text der Weltliteratur.
„Die Leiden des jungen Werther“ wurden in einigen chinesischen Gegenwartsromanen erwähnt, wie in Mao Duns „Shanghai im Zwielicht“ oder in „Autobiography of a Chinese Girl“ von Hsieh Ping Ying. Ähnlich wie Ibsens „Nora“ wurde Werther zur Identifikationsfigur für viele Jugendliche – da sie Werthers Gefühlsüberschwang und Schwärmerei teilten und ebenso wie er mit der Gesellschaft und deren Normen unzufrieden waren. „Nora wurde zum Symbol für die Befreiung der Frau und Werther zum Sinnbild des Kampfes der Jugend gegen die traditionelle Heirat. Genauer ausgedrückt: der Werther wurde zur einfachen Geschichte der Liebe eines Mannes zu einer verlobten oder verheirateten Frau, die in ihrer Ehe keine Verwirklichung findet, weil diese unter Zwang geschlossen wurde.“
Die Werther-Figur wurde zum Symbol des Kampfes der Jugend gegen die arrangierten Ehen und zur Galionsfigur der von den Intellektuellen der 4.Mai-Bewegung propagierten Befreiung des Individuums. Die Werther-Begeisterung löste in China, wie auch 150 Jahre früher in Deutschland, eine Selbstmordwelle unter Jugendlichen aus. Mitursache für den Anstieg der Selbstmordrate können allerdings auch die zeitbedingten Probleme der Jugend in China gewesen sein. Die jungen Chinesen befanden sich in einem Vakuum zwischen alter Tradition und neuen Anschauungen. Auch „weil Faktoren wie Fatalismus, Melancholie, Resignation, Weltschmerz und Sentimentalität bereits vorhanden waren, konnte Werther zum Symbol dafür werden.“
Chinesische Leser interpretierten die Werther-Figur mit anderen Schwerpunkten als europäische Rezipienten. „Fast jedes angeschnittene Problem wurde von ihnen in die eigene Situation transportiert und das Werk in Hinblick auf eigene Wertvorstellungen kritisiert oder befürwortet. Die chinesischen Intellektuellen, die wir betrachtet haben, finden ihren neu entdeckten Individualismus, ihre revolutionäre Befreiung des Gefühls von allen Bindungen und ihre traditionelle Naturliebe als Pantheismus in ‚Werther‘ widergespiegelt; sie suchten Bestätigung der tradierten Werte.“ Trotz dieser unterschiedlichen Interpretationsmuster war der Erfolg des Romans enorm. Eine ganze Generation erkannte sich, wie auch in Europa, in Werthers Weltschmerz wieder.