Chinesen und die Deutschen

Von Weihua Li

Ein kleiner Spaziergang im Irrgarten der Kulturen

Prallen zwei Autos aufeinander, ist es ein Verkehrsunfall! Prallen zwei Kulturen aufeinander, ist es ein Kulturunfall! Während ein Verkehrsunfall in erster Linie zu Sach- und Personenschäden führt, hat ein Kulturunfall oft unabsehbare Folgen, wie dieses Beispiel illustriert.

Es waren einmal zwei chinesische Austauschstudenten, die, noch ganz neu in Deutschland, ihren deutschen Professor zu Hause besuchten. Er hatte sie zum Essen eingeladen – eine große Ehre für die beiden Frischlinge, die sehr neugierig auf alles waren. Eine Gans nach bayerischer Art hatte der nette Professor als Hauptspeise zubereitet. Nach dem „Guten Appetit“ und dem ersten gemeinsamen Anstoßen begannen sie zu essen.

Es dauerte nicht lange, bis der Professor feststellte, dass seine Gäste viel zu wenig und zu langsam aßen. Auf seine Frage, ob das Essen ihnen nicht gut schmecke, kamen ihre Antworten wie aus der Pistole geschossen: „Doch, doch! Sehr lecker!“ Als der Professor ihnen eine weitere Portion anbot, lehnten aber beide ebenso bestimmt ab, wie sie zuvor noch den Braten gelobt hatten. Frustriert kamen er und seine Frau zu dem Ergebnis, dass ihr Gänsegericht für den asiatischen Gaumen offensichtlich keinen großen Genuss darstellte. Die beiden Studenten aber waren auch nicht glücklicher als der Professor, als sie mit einem Bärenhunger ins Studentenheim zurückkehrten und in die Küche eilten, um ihre chinesischen Schnellnudeln zu kochen. Dabei unterhielten sie sich darüber, wie ausgezeichnet doch die Gans geschmeckt hatte – und wie schön es gewesen wäre, wenn der Professor sie noch drei Mal öfter aufgefordert hätte …

„Wer zu stur auf seiner eigenen Kultur besteht, kann darunter leiden, ja am Ende sogar verhungern!“

Diesen wahren Kulturunfall erlebten eine Kommilitonin und ich in München, als wir 1997 als Austauschstudenten dort studierten. Um unsere guten Manieren zu demonstrieren, hatten wir uns als höfliche Gäste nicht getraut, von den köstlichen Speisen selbst nachzunehmen. Wir hatten gehofft , dass unser ahnungsloser Gastgeber uns vielleicht zum zweiten oder gar zum dritten Mal auffordern würde. Dann hätte ich bestimmt gerne noch ein großes Stück genommen. Wie lecker die knusprige Gans war! Anders als im Märchen blieb es aber den ganzen Abend über bei der Hoffnung. Ich lernte daraus: Wer zu stur auf seiner eigenen Kultur besteht, kann darunter leiden, ja am Ende sogar verhungern!

Eine andere Anekdote erzählte mir eine chinesische Bekannte, die seit fünf Jahren in Deutschland studiert und arbeitet. Als sie nach Deutschland kam, brachte sie Berge von Bekleidung mit. Ihre Freunde hatten sie gewarnt, dass die Europäer sehr groß seien und sie deshalb wahrscheinlich keine passenden Kleider für sich finden würde. Sie bekam regelrecht Angst vor der Vorstellung, als Zwerg unter Riesen leben zu müssen. Dass es sehr wohl schöne Kleidung in ihrer Größe gibt und dass es zwar große Leute gibt, aber nicht alle Riesen sind, fand sie erst später heraus. Beim Erzählen lachte sie selbst über ihre naiven Vorstellungen. In den Augen der meisten Chinesen ist ein Deutscher nun einmal in erster Linie eine „Langnase“. Und eine typische Langnase ernährt sich von Fleisch, Butter und Käse. Er trinkt zu jeder Mahlzeit sein Bierchen und isst dazu eine Schweinshaxe. Er ist knapp zwei Meter groß, kräftig und hat keine Angst vor einem Bierbäuchlein. Er hat von Natur aus eine flinke Zunge, die das „R“ mühelos aussprechen kann. Das können in China nur die Opernsänger.

Wer aus China zum ersten Mal nach Deutschland kommt, dem wird noch manch anderes auffallen: etwa dass man sonntags seine Sehnsucht nach Shopping unterdrücken muss, dass die Busse minutengenau ankommen, dass man gerne lieber für den Urlaub als fürs Essen tief in die Tasche greift, dass „Dienst Dienst und Schnaps Schnaps ist“ oder dass das Schlürfen am Esstisch zehnmal schlimmer ist als das Schnäuzen. Die Grenzen zum Klischee sind fließend: Die Deutschen bauen im Urlaub überall am Strand ihre Sandburgen, während die Chinesen dort tausend Fotos schießen. Chinesen essen alles, was vier Beine hat, außer Tischen und Stühlen und alles, was fliegt, außer Flugzeugen. Kaum kommen drei Deutsche zusammen, gründen sie einen Verein.

Solche Typisierungen sind emotional und selektiv. Sie sind subjektiv und verallgemeinernd. Doch sie sind ein wichtiges Instrument für unsere Orientierung und helfen dabei, das Fremde einzuordnen. Man mag sich über Stereotype wundern oder ärgern – ohne sie kommt man nicht aus. Die Frage ist nur, wie man mit ihnen umgeht. Welche Eigenschaft en schreibe ich mir selbst zu und welche meinen ausländischen Freunden? Haben wir diese Zuschreibungen verdient, nur weil wir einen deutschen oder chinesischen Personalausweis besitzen? In China fällt übrigens ein typischer Chinese so wenig auf wie ein typischer Deutscher hierzulande. Er ist der normalste Mensch unter den Einheimischen. Typisch wird er erst in den Augen eines Fremden. Wer sich in einem fremden Land befindet und nicht sicher ist, wie er richtig handeln soll, dem könnte deshalb eine alte Weisheit helfen: „Bist du in Rom, tu das, was die Römer tun.“

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