`Menschenfresser` im Land der Mitte.

Menschenfresser und Blutverkäufer

Was wissen wir eigentlich über Chinas Schriftsteller und Bücher? Ein Gang durch eine Literatur, die ihren Ort in der Welt noch sucht.

Die moderne chinesische Literatur begann 1918 mit einer grausigen Metapher: Menschen fressen. Die beiden Zeichen lugten in Lu Xuns „Tagebuch eines Verrückten“ hinter all den Büchern der konfuzianischen Tradition hervor, in deren Namen das Volk jahrhundertelang malträtiert, abgestumpft und ohnmächtig gemacht worden war. Die Neuerer kämpften für Demokratie, Wissenschaft und eine volksnahe Sprache, um, wie sie damals sagten, „China zu retten“. Die Reformbewegung mündete in politische Gruppierungen: die nationale Kuomintang und die Kommunistische Partei, die am Ende bekanntlich die Macht errang. Heute, sechzig Jahre, eine Kulturrevolution und eine kapitalistische Revolution später – inzwischen ist das Land so mächtig und für den Westen wichtig geworden, dass die Frankfurter Buchmesse es als Ehrengast einlud -, findet die chinesische Literatur abermals eine Metapher, um ihr Land zu bezeichnen, nicht weniger archaisch und unheimlich als die für das alte Reich: Blut verkaufen.

Folgen:

Yu Hua siedelte seinen 1996 erschienenen Roman „Der Mann, der sein Blut verkaufte“ in den sechziger und siebziger Jahren an, in denen der Seidenfabrikarbeiter Xu Sanguan zwischen Hungersnot und Kulturrevolution alle Schicksalsschläge dadurch verarbeitet, dass er gegen Geld Blut spendet und so sein Leben immer mehr aufzehrt. Hinter dem gemütlichen, ja humoristischen Ton des Buchs kam eine große Trauer über die Ohnmacht der kleinen Leute zum Vorschein, die nur um den Preis der eigenen Selbstzerstörung überleben zu können glauben.

Yan Liankes 2007 veröffentlichter, jetzt auf Deutsch erschienener Roman „Der Traum meines Großvaters“ spielt dagegen mitten im gegenwärtigen Kapitalismus mit chinesischen Kennzeichen. Das Dorf Dingzhuang, dessen furchtbare Kämpfe er schildert, hat ein reales Vorbild in den Dörfern, die sich in den neunziger Jahren durch verunreinigte Bluttransfusionen mit Aids infizierten. Yan Lianke hatte lange Zeit selbst in diesen Orten recherchiert, doch was dabei herauskam, ist alles andere als ein Beispiel der früher in China maßgeblichen Reportageliteratur. Aus der Perspektive eines von den Dorfbewohnern vergifteten Kindes wird eine Geschichte von Gier, Neid, Rache und Funktionärsgewalt unter extremen Bedingungen erzählt, deren Dichte eher surrealistische als hergebracht realistische Züge trägt.

Das Fehlen eines Viktorianischen Zeitalters

Und auch hier ist der Handel mit Blut der Ausgangspunkt des Geschehens: die trügerische Methode, aus der Armut herauszukommen und bei der Marktkonkurrenz ringsum mitzuhalten. Beide Romane gehen auf Vorkommnisse in der Wirklichkeit zurück, doch sie gewinnen dieser ein ungeheuerliches, umfassendes Sinnbild ab: für eine Welt, in der die schutzlosen Schwächsten keinen anderen Rat mehr wissen, als ihr eigenes Leben zu verkaufen.

Man weiß oft nicht, ob es vor allem die Monstrosität der zugrundeliegenden Realität oder der Schilderung ist, die einen als westlichen Leser verwirrt, beunruhigt. Was Goethe einmal gegenüber Eckermann als Kennzeichen der chinesischen Romane hervorhob – dass bei ihnen „alles klarer, reinlicher und sittlicher zugeht“ als bei uns -, scheint sich geradezu ins Gegenteil verkehrt zu haben. Chinesische Romane sind heute Schauplatz wüstester Exzesse, und jegliches Maß durch die sie umgebende Natur haben die handelnden Personen offenbar längst hinter sich gelassen. John Updike hat ein wichtiges Stichwort für die westliche Wahrnehmung geliefert, als er bei der chinesischen Gegenwartsliteratur das „Decorum“ vermisste: nicht bloß Anstand also, sondern überhaupt die angemessene Form, um das Chaos innen und außen halbwegs bändigen zu können. Er machte, allenfalls halbironisch, das Fehlen eines Viktorianischen Zeitalters dafür verantwortlich, aber es ist natürlich viel eher die verlorene Beziehung zu den ordnenden, mäßigenden Mustern der eigenen Tradition, die für die Entfesselung sorgt, vielleicht auch der Umstand, dass sich die zeitgenössischen Autoren in China gleichfalls kaum von den Kriterien der literarischen Öffentlichkeit im Westen in die Pflicht nehmen lassen.

Es fiele schwer, bei den zahlreichen chinesischen Neuerscheinungen dieses Herbstes überhaupt ein spezifisches Merkmal auszumachen, das sich auf Anhieb mit der alten Kultur oder einem wie auch immer gearteten neuen Nationalcharakter dieses Landes in Verbindung bringen ließe. Hinzu kommt, dass die „Weltliteratur“, mit der man im Westen vertraut ist, sich überwiegend in den Grenzen der eigenen Hemisphäre und der früheren kolonialen Zonen bewegt. Deshalb liefern indische, lateinamerikanische und sogar arabische Literaturen noch genügend Bezugspunkte im bekannten Koordinatensystem, chinesische dagegen trotz aller Globalisierung nicht.

Ein deutscher Kritiker schlägt hohe Wellen

Umso wichtiger ist daher, den Ort der neuen chinesischen Literatur zu bestimmen, sowohl innerhalb ihrer eigenen Geschichte als auch in ihrem Verhältnis zur Welt. Goethe hatte die chinesischen Romane umstandslos als Beispiel für „Weltliteratur“ genommen, die er den Deutschen als Heilmittel gegen „pedantischen Dünkel“ empfahl. Doch aus Sicht der Chinesen begann dieser Eintritt in die Weltliteratur erst am Anfang des letzten Jahrhunderts, als sie an der westlichen Literatur Maß zu nehmen begannen. Die Vierter-Mai-Bewegung von 1919, die den politischen Abschied vom Kaisertum kulturell nachvollzog, forderte mit ausdrücklichem Verweis auf die europäischen Nationalliteraturen die Anerkennung der gesprochenen Sprache für die höchsten literarischen und akademischen Zwecke. Zuvor war für diese höheren Ebenen nur die längst tote Schriftsprache, in der Konfuzius geschrieben hatte, maßgeblich gewesen.

Wortführer der Bewegung wie der Literaturwissenschaftler Hu Shi konnten darauf verweisen, dass schon die großen Romane der letzten Jahrhunderte wie „Der Traum der roten Kammer“ einen großen Anteil an gesprochener Sprache hatten, den sie mit klassischen Elementen versetzten. So war der Übergang also ein gleitender, und doch kann der offizielle Bruch mit dem alten Sprachsystem in den zwanziger Jahren tatsächlich als Zäsur betrachtet werden, mit der die moderne chinesische Literatur erst begann. Wie für die Gesellschaft insgesamt, die sich damals als „Nation“ im europäischen Sinn zu fühlen anfing, galt es als entscheidend, sich zur „Welt“ in Beziehung zu setzen, wobei sich nationalistische und kosmopolitische Ziele auf eigentümliche Weise vermengten. „Zuerst müssen unsere jungen Leute China in ein Land verwandeln, das sich artikulieren kann“, schrieb der Schriftsteller Lu Xun, „und erst dann werden wir in der Lage sein, China und die Welt zu bewegen.“

Das ist wohl auch der Grund, weshalb die Kritik des Bonner Sinologen Wolfgang Kubin, der in der Literatur nach 1949 eine repräsentative Gestalt wie Lu Xun vermisste, in China vor drei Jahren so hohe Wellen schlagen konnte: Sie traf mit ihrer Anmahnung von polyglotten, weltoffenen Autoren den Nerv des Bezugs zur Außenwelt, der am Anfang der chinesischen Moderne stand. Erstaunlich viele Chinesen erklärten sich in Umfragen mit Kubin einverstanden und bezeichneten seine Intervention als einen „Weckruf“.

Der chinesische Auslandskult

Doch schon von Anfang an war der Ruf nach Öffnung paradox: Der amerikanische Literaturwissenschaftler C. T. Hsia sprach von einer „Obsession mit China“, durch die sich die Schriftsteller mit Hilfe der Moderne von der Moderne abgeschottet hätten. Sie habe die Autoren dazu gebracht, jegliches Leiden auf nationale Modernitätsdefizite zurückzuführen, denen durch vermehrten ausländischen Einfluss abgeholfen werden könne. Erst wenn sie das Leiden als Bedingtheit des modernen Menschen schlechthin akzeptiert hätten, wären sie laut Hsia „ein fester Bestandteil der allgemeinen modernen Literatur geworden“.

Selbst der große Lu Xun war von dem Projekt der „Rettung Chinas“ aus feudalistischer Selbstverstümmelung besessen, und die, die nach ihm kamen, setzten diese Fixierung fort, ohne die mit ihm gleich zu Beginn erreichte literarische Höhe halten zu können. Alle möglichen westlichen Schulen wurden in den zwanziger Jahren mit Eifer studiert und diskutiert, doch was sich mehr und mehr durchsetzte, war das, was der spätere Mitgründer der Kommunistischen Partei Chen Duxiu schon 1918 in seinem Aufruf zur Literaturrevolution gefordert hatte: „Die stereotype und monotone Literatur des Klassizismus zerstören und die frische und aufrichtige Literatur des Realismus schaffen.“ Wer in dieses Schema nicht passte, sei es der charmante China-Erklärer Lin Yutang oder die an Sex und Verrat entlangbalancierende Eileen Chang (deren Erzählung „Lust, Caution“ Ang Lee vor kurzem verfilmt hat), galt lange als rückschrittlich und wurde in der Volksrepublik erst in letzter Zeit wiederentdeckt.

Am freiesten ging mit den Geboten der Zeit Qian Zhongshu um, der neben Lu Xun wohl wichtigste chinesische Schriftsteller des letzten Jahrhunderts. Sein Roman „Die umzingelte Festung“ von 1949, dessen deutsche Übersetzung kürzlich wiederaufgelegt wurde, handelt von einem jungen Mann, der aus Europa zurückkommt, wohin er ausgerechnet zum Studium der chinesischen Literatur gegangen war. Der Erzähler versichert, dass er das keineswegs für absurd halte, denn alles andere wie Technik, Philosophie und Wissenschaft werde ja ohnehin schon aus dem Ausland importiert, und so bedürfe nur noch die Literatur zu ihrer Selbstbehauptung des ausländischen Firmenschilds, so wie die Geschäftsleute „das in China erpresste Geld in ausländische Währung umtauschen müssen, damit es bei der Inflation seinen Wert behält“. Souveräner konnte man den chinesischen Auslandskult im Interesse der chinesischen Rettung wahrlich nicht behandeln.

Ein Boom der Wolfsbücher

Ansonsten aber sollte die „Obsession mit China“ die chinesische Literatur im Medium des Realismus lange im Griff behalten, vor allem, als 1949 die Kommunisten die Macht übernahmen und Maos kulturpolitische Grundsätze über die Einheit von Kunst und Revolution durchsetzten. Wichtige Autoren der vorangegangenen Jahrzehnte wie Lao She und Ding Ling verstummten zusehends, während die Räume zwischen der Gesellschaft und deren zielgerichteter Abbildung immer enger wurden. Selbst in den achtziger Jahren, als viele Autoren die Schrecken der Kulturrevolution zu verarbeiten suchten, taten sie dies mit den erlernten Techniken des sozialistischen Realismus, der nun in der sogenannten „Wundenliteratur“, der „Suche nach den eigenen Wurzeln“, der Frauenliteratur oder der Reportageliteratur zur Anwendung kam.

Noch heute ist ein Großteil der Neuerscheinungen in China solchen Prinzipien verhaftet und beschäftigt sich, um ein Beispiel aus einer aktuellen Jahresübersicht herauszugreifen, mit einer „Dorfschule, die auf den Bau einer öffentlichen Toilette wartet“; die Probleme, die sich an der Basis stellen, werden getreulich benannt, um sie dann in konstruktiver Gesinnung einer Lösung zuzuführen. Mit solcher Treuherzigkeit hatte der Roman „Wolf Totem“, den ein emeritierter Juraprofessor 2004 unter dem Pseudonym Jiang Rong veröffentlichte, nichts zu tun. Doch auch dessen paradox verwickelte Botschaften aus der mongolischen Wolfsidylle, in die der Ich-Erzähler während der Kulturrevolution eintaucht, scheinen den aktualisierten Bedürfnissen des Über-Ichs China zu entsprechen.

Die Mahnung zur Stärke (zumal gegenüber Ausländern) geht da mit einer Kritik am Imperialismus der Han-Chinesen und einer Sorge um die durch die Moderne versehrte Natur einher. Das Buch, das vergangenes Jahr unter dem Titel „Der Zorn der Wölfe“ auch in deutscher Übersetzung erschienen ist, wurde in China zu einem gigantischen Verkaufserfolg und hatte eine Fülle von anderen Wolfsbüchern zur Folge, die seine Botschaften für unterschiedliche Zielgruppen weiter variierten.

Die Literatur begann aus dem Ruder zu laufen

Die Ersten, die nach der Kulturrevolution aus den kollektivistischen Mustern radikal ausbrachen, waren eine Reihe von Lyrikern, die von regierungsamtlichen Kritikern prompt das Etikett „obskure Lyrik“ angehängt bekamen, das sie sich später selbst als Ehrentitel anrechneten. Vor den Hintergrund der gemeinsamen Generationsgeschichte stellten Autoren wie Bei Dao, Meng Ke, Gu Cheng und Yang Lian in ihrer Zeitschrift „Heute“ das einzelne Ich, dessen fragile Erfahrungen sich nicht länger in der Eindeutigkeit des Realismus oder sonst einer Propagandasprache ausdrücken lassen. Die darauf folgende Generation der „postobskuren“ Lyriker wie Ouyang Jianghe, Xi Chuan und Zhai Yongming baut auf dieser Unabhängigkeit auf und treibt die Sprachkritik, bisweilen auch die absurden Elemente noch weiter. Diese jüngeren Dichter sind im Herbst 2009 sowohl in dem Hörbuch „Schmetterlinge auf der Windschutzscheibe“ wie in der Anthologie „Alles versteht sich auf Verrat“ vertreten.

In der zweiten Hälfte der Achtziger fingen auch einige Romanciers an, die alten Geschichten anders zu erzählen. Sie überschritten den nationalen Rahmen und die Fortschreibung des humanistischen Epos, als dessen Teil sich die Kommunistische Partei verstand, zum Individuellen, zum Grotesken und Mythischen: Die Literatur begann aus dem Ruder zu laufen.

Programmatisch war die Sprache, in der Mo Yan 1987 seinen Roman „Das rote Kornfeld“ den „erzürnten Geistern“ seiner Helden widmet: „Ich, euer unwürdiger Nachkomme, bin bereit, mir das Herz aus der Brust zu reißen, es in Sojasauce einzulegen, durch den Fleischwolf zu drehen, auf drei Essschälchen zu verteilen und es euch in den Hirsefeldern als Opfergabe darzubringen.“ Die Geschichte Chinas spielte weiterhin eine große Rolle; Hintergrund der Handlung war wie in so vielen anderen chinesischen Romanen der Krieg gegen Japan, doch im urtümlich grausamen Mikrokosmos des Dorfs Gaomi verlor das patriotische Geschehen seine Zielgerichtetheit.

Die Geschichte hat keine Wahrheit mehr

Nicht von ungefähr war Zhang Yimous Verfilmung des Romans 1988 einer der ersten Filme, mit denen die Regisseure der „Fünften Generation“ das chinesische Kino neu begründeten. Allerdings ist Zhangs Bearbeitung strenger als das Original, indem sie die Überfülle an Motiven, Geschichten und Obszönitäten auf einige wenige konzentriert. Der Horror Vacui steigerte sich bei Mo Yan später noch; die dieses Jahr auf Deutsch erschienenen Romane „Die Sandelholzstrafe“ (1996) und „Der Überdruss“ (2008) gleichen mit ihren zahllosen Dämonen und grotesk übersteigerten Details Gemälden von Hieronymus Bosch. Wieder wird die große Geschichte, von der Kolonialzeit unter den Deutschen bis zur Kulturrevolution, im Prisma bäuerlicher Legenden und Kraftausdrücke gebrochen. Im Nachwort zur „Sandelholzstrafe“ vermutet Mo Yan nicht ohne Koketterie, das „Gefallen von Liebhabern westlicher Literatur“ werde der auf den vielstimmigen alten Gesängen seiner Heimat gründende Roman wohl nicht finden; er schlägt vor, das Buch von einem Sprecher mit rauher Stimme auf öffentlichen Plätzen vortragen zu lassen.

Auch Yu Hua, dessen frühen Roman „Leben!“ Zhang Yimou 2004 verfilmte, kehrte im Lauf der Jahre immer stärker hervor, was er als das Absurde der chinesischen Gleichzeitigkeiten wahrnimmt. Sein gerade übersetzter Roman „Brüder“ (2005) erzählt mit atemraubender Vulgarität und großem Witz von zwei Brüdern aus der Provinz, die mit Bauernschläue und Hemmungslosigkeit durch die Zeit von der Kulturrevolution bis zur kapitalistischen Gegenwart stolpern. Sowenig sich dieser Roman an eine Gattungsgrenze hält, so wenig scheinen die vielen Widersprüchlichkeiten und Verrücktheiten noch irgendeine vernünftige Erzählperspektive zuzulassen.

Ähnlich aufgesplittert ist die Blickrichtung in vielen neueren Büchern, gewiss auch unter dem Einfluss der westlichen Theorien, die in den achtziger Jahren in China heftig diskutiert wurden. Der Roman „Der Berg der Seele“ (1990), für den der im Pariser Exil lebende Gao Xinjiang 2000 den Literatur-Nobelpreis bekam, ist in einer Vielzahl von Erzählerstimmen geschrieben, die alle ihren Anteil an „Wirklichkeit“ enthalten, zu der diese Reise durch das alltäglich rauhe und das mystische China gelangen will. Ein Erzähler in Mo Yans „Überdruss“ ist ein als Esel wiedergeborener Grundbesitzer. Ausdrücklich wird der Abschied von einer einheitlichen Erzählautorität in dem gerade auf Deutsch erschienenen Roman „Koloratur“ von Li Er (2002) zum Thema gemacht: Das Verschwinden des Soldaten Ge Ren (was auch als „einzelner Mensch“ übersetzt werden kann) im Krieg gegen Japan wird von drei verschiedenen, einander zum Teil widersprechenden Zeitgenossen rekonstruiert. Die Geschichte hat keine Wahrheit mehr, sondern ist ebenso wie die in ihr handelnden Individuen ein Mosaik.

Die dominierenden „Post-Achtziger“

Nach der blutigen Niederschlagung der Pekinger Studentenbewegung von 1989 und der forcierten Einführung der Marktwirtschaft in den neunziger Jahren verlor auch die Gesellschaft ihr einheitliches Subjekt. Während die Kommunistische Partei an ihrem umfassenden Kontrollanspruch festhielt, zersplitterten die Debatten und die kulturellen Milieus zusehends. So finden sich auch in der gegenwärtigen chinesischen Literatur die verschiedensten Ebenen vom Epochenroman über die oft drastischen Schilderungen des Großstadtlebens, für die in den neunziger Jahren vor allem die „Schurkenromane“ Wang Shuos und heute am ehesten Autoren wie Zhu Wen („I love Dollars“) oder Xu Zechen („Im Laufschritt durch Peking“) stehen, bis hin zu den verschiedenen Spielarten der Schanghai-Baby-Literatur, mit deren Übersetzung einige Verlage in den letzten Jahren zu demonstrieren versuchten, dass China lifestylemäßig aufgeholt habe.

Man liebt es in China, die Autoren nach den Jahrzehnten ihrer Geburt einzuteilen, womit man zugleich das Tempo der Veränderungen betont, das mit jeder Dekade eine neue Generation beginnen lasse. Die derzeit dominierenden „Post-Achtziger“ setzen sich wie der Rennfahrer Han Han scharfzüngig von allen früheren Jahrgängen ab und fügen sich ansonsten wie der Jugendautor Guo Jingming geschmeidig der sie umgebenden Konsumkultur ein.

Dies läuft alles nebeneinander, fast ohne ein verbindliches öffentliches Gespräch über Qualitätskriterien in Gestalt einer glaubwürdigen, unabhängigen Literaturkritik. Wie in anderen Kulturbereichen ist es üblich, dass Verlage Rezensionen in Auftrag geben und bezahlen, und entsprechend gering ist ihre Autorität. Die einzig maßgebliche Instanz bilden die Zensoren von der „Allgemeinen Behörde für Presse und Publikationen“, die trotz der fortschreitenden Diversifizierung und Privatisierung des Verlagswesens die Zügel bei bestimmten Themen wie Partei, Religion und „Separatismus“ nicht locker lassen. So kommt es, dass die neuere Literatur zwar die rapide Ausdifferenzierung der Gesellschaft abbildet, aber praktisch nie die politische Instanz dahinter, die Kommunistische Partei in all ihren Erscheinungen, zum Thema macht. Dies bleibt weitgehend Exilautoren wie dem in London lebenden Ma Jian vorbehalten, von dem jetzt der Roman „Peking Koma“ über die Niederschlagung der Studentenbewegung auf Deutsch erschienen ist.

Ein Land der Maßlosigkeiten

Eine beeindruckende Ausnahme bildet der an wechselnden Orten in China lebende Liao Yiwu, dessen in vielen Jahren mit Menschen an der gesellschaftlichen Peripherie geführte Gespräche (die auf Deutsch gerade unter dem Titel „Fräulein Hallo und der Bauernkaiser“ erschienen sind) sich kein bisschen um irgendeines der staatlich etablierten Tabus kümmern. Mit ihren vielen Geschichten der Einzelnen entwerfen sie auf diese Weise ein Gegenbild zur offiziellen Geschichtserzählung. Liao Yiwu darf nicht zur Buchmesse ausreisen.

Wahrscheinlich muss man dieses Land mit seinen Maßlosigkeiten und Disparitäten, seiner zugleich zukunftsfrohen und verzweifelten Suche nach sich selbst wohl notgedrungen mitlesen, wenn man sich seinen Autoren nähern will. Dass dieser Literatur das „Decorum“ fehlt, ist zugleich ihre Qualität. Und ansonsten gilt, was der große Qian Zhongshu schon 1945 dieser sich aus ihrer überkommenen Langsamkeit befreienden und mit der Welt verbindenden Literatur prophezeite: Das Beste wird selbstverständlich noch kommen.

Quelle: F.A.Z. Mark Siemon


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