Die chinesischen Jahre des fantastischen Uli Sigg

Der Schweizer Uli Sigg hat in der Phase der wirtschaftlichen Oeffnung Chinas nach der Mao Zeit
eine wesentliche Rolle gespielt, und er trug die bedeutendste Sammlung
chinesischer
Gegenwartskunst zusammen. Der grösste Teil davon wird dem Museum M+ in Hong Kong
übergeben, welches 2019 eröffnet wird.
Eine Dokumentation über den Unternehmer, Diplomaten und Kunstsammler Uli Sigg im
Spannungsfeld der chinesischen
Gesellschaft von den späten Siebzigerjahren bis heute.
Ein Schweizer aus dem Luzernischen: Uli Sigg. Als Jugendlicher entdeckt er bei einer
Weltmeisterschaft im Rudern, dass man auch dann zu den Weltbesten zählen kann, wenn man aus
der Innerschweizer Provinz stammt.
Uli Sigg wollte in der Folge zu den Weltbesten gehören. Nicht nur im Rudern.
1980 wird er Vizepräsident des ersten Joint Ventures zwischen einem westlichen Unternehmen (Schindler Gruppe) und Rotchina. Er spielt eine oft kuriose, schwierige und immer bedeutendere Rolle bei der Einführung der Marktwirtschaft im Reich der Mitte, und er kommt mit chinesischer
Politprominenz und Künstlern der Untergrundszene in Berührung.
1995 wird er vom Schweizer Bundesrat Flavio Cotti für vier
Jahre zum Schweizer Botschafter für China, die Mongolei und Nordkorea berufen. In chinesischen Regierungskreisen heisst es, die Schweiz hätte den besten Diplomaten in Peking. Sigg wird etwa von mehreren Nationen um
Vermittlung beim Konflikt um den neuen Panchenlama ersucht.
Uli Sigg hat das Rudern nicht verlernt. Der Ehrgeiz treibt ihn weiter an. Die Erfolge als Unternehmer, Investor oder Diplomat genügen ihm nicht. Mitte der Neunzigerjahre entdeckt er, dass sich eigentlich niemand für die Kunst des neuen
Chinas interessiert.
Er sollte ihr einflussreichster Sammler werden. Sigg wird Mentor und Vermittler solcher Berühmtheiten wie Ai Weiwei, Zeng Fanzhi oder Cao Fei. Die Sammlung wird die grösste und facettenreichste ihrer Art weltweit.
Sigg wendet sich der Kunst zu, weil er China verstehen will. Er verspricht den Künstlern, viele der gesammelten Werke nur für eine bestimmte Zeit aufzubewahren. Eines Tages sollen sie zurück nach China. Dann, wenn das Land politisch bereit ist, diese Werke öffentlich auszustellen. Und
die Künstler geben ihm einige ihrer wichtigsten Arbeiten. Bis 2015 sind es über 2.200.
Inzwischen lebt Sigg auf Schloss Mauensee, nicht weit von seinem Geburtsort entfernt. Aber er ist der Global Player geblieben. Er sitzt mit Henry Kissinger und Tony Blair im Advisory Board der China Development Bank, berät die Tate, die Art Basel oder das MoMa in Fragen zur chinesischen Gegenwartskunst.
Und er hat einen grossen Deal gemacht: 1’500 Werke seiner Sammlung werden2019 nach Hong Kong wandern, wenn dort das Museum für Visuelle Kultur M+ fertiggestellt sein wird.
Damit geht ein wesentlicher Teil der grössten Sammlung chinesischer Gegenwartskunst weltweit zurück nach China.
Sigg hat die Mission, die er sich auferlegt hatte, erfüllt.
Jedoch wird er weiter sammeln, beraten und vor allem die nächste Generation von Künstlern fördern. Kreativität sei die einzige Ressource, die unerschöpflich ist, sagt er. Als spräche er über sich selbst.
Hin und wieder rudert er heute auf dem Mauensee. Und wundert sich manchmal, dass man tatsächlich zu den Weltbesten zählen kann, selbst wenn man aus der Schweizer Provinz stammt.
Der Film ist eine Zeitreise durch die ungewöhnlichen Leben Uli Siggs und die moderne Geschichte Chinas seit dem Tod Maos. Wir begegnen zum Beispie
l Ai Weiwei, Rita Sigg, CaoFei, Jacques Herzog und Pierre de Meuron oder Lang
Lang.
Wir besuchen Karaoke Bars in Tienzin, das Schloss Mauensee und das einst grösste, heute verlassene Stahlwerk Chinas. Wir erleben Parties von Hongkonger Milliardären und die Baustelle des Museums M+, Künstlerateliers in Peking und die nächtlichen Garküchen von Jinhua. Ein Schwein wird geschlachtet. Eine
Kunstmesse abgehalten.
Ein Olympiastadion gebaut. Ein chinesischer Präsident begrüsst. Eine Brücke überschritten.
Director’s Note
Michael Schindhelm
Die Geschichte von Marco Polo ist unendlich. In Variationen wird sie weitererzählt. Bis heute.
Jemand bricht auf ins Unbekannte. Er kommt zurück und berichtet. Manchmal glaubt man ihm nicht. Marco Polo hat man zum Beispiel nicht geglaubt. Einen Angeber hat man ihn genannt.
Messer Milione, weil scheinbar in China alles so viel grösser gewesen sei. Uli Sigg hat der Gefahr,dass man ihm nicht glauben könnte, vorgebeugt und die grösste Sammlung chinesischerGegenwartskunst angelegt. 2200 Werke sprechen für sich selbst. Und für Uli Sigg. Seine chinesischen Leben.
Als ich Sigg am Rande unserer Dreharbeiten zu
Bird’s Nest kennengelernt habe, ist mir sofort
aufgegangen, dass dieser Mann nicht nur ein Leben führt, sondern mehrere.
Gleichzeitig und nacheinander. Ich würde mindestens drei zählen. Dreimal leben im Ausnahmezustand.
1979 gehörte er zu jenen Abenteurern, die Rotchina von den Vorzügen der Marktwirtschaft überzeugen wollten. Ihm ist das gelungen, und er hat zwölf lange, harte,faszinierende und manchmal absurde Jahre lang für Schindler
den ersten Joint Venture in Peking geleitet.
1995 wurde er Schweizer Botschafter in Peking. Natürlich nicht irgendein Karrierediplomat.Schliesslich kannte er Präsident Jiang Zemin aus alten Schindler
Zeiten, und er kannte den Untergrund der Kunstszene. Begann systematisch zu sammeln. Künstler wie Fang Lijun oder Wang Guangyi haben ihn
nie als einen Sammler gesehen, der Geld verdienen will.
Ai Weiwei hat die Preise für seine eigenen Werke immer runtergehandelt. Diese Leute wussten, dass ein Grossteil der chinesischen Gegenwartskunst dieser Jahre für immer zerstört wäre oder verschwunden, hätte sich Sigg nicht darum gekümmert.
Seit bald zwanzig Jahren pendelt Sigg zwischen seinem Wasserschlösschen nahe Luzern und China. So sind wir uns 2003 begegnet. Herzog und de Meuron suchten seine Hilfe bei der Vorbereitung zum Wettbewerb um den Baudes Olympiastadions in Peking.
Ohne ihn, haben mir Jacques und Pierre damals schon gesagt,
werden wir das nie hinkriegen.
Sigg war damals schon der einflussreichste Mann in Sachen chinesischer Gegenwartskunst, Berater in Politik, Wirtschaft.
Aber nicht das macht seine ungewöhnlichen Leben so interessant. Es ist nicht nur Ehrgeiz,sondern auch Glück im Spiel. Glück, das Sigg geniesst, wie es Marco Polo genossen hätte.
 
Sigg hat – ich behaupte, dank einer Kette von Zufällen
und einer Reihe persönlicher Motive – aus
intimer Nähe erleben können, wie dieser chinesische Riese 1979 mit der Politik der Offenen Tür aus seinem fast zweihundertjährigem Koma erwacht ist. Man könnte sogar sagen, Sigg hat einen Beitrag dazu geleistet, den Riesen aufzuwecken.
Als er die
VR China zum ersten Mal besuchte, war über dieses Land weit weniger bekannt als
heute über Nordkorea. Das Land und seine Menschen wussten nicht viel über sich selbst. Sigg ist gereist, hat verhandelt, gemanaget, geschwitzt, gefroren, gelernt und gelehrt wie kaum sonst ein Westler. Er ist chinesischen Präsidenten und flüchtigen RAF- Terroristen begegnet. Ai Weiwei hat mir über ihn gesagt:
Uli was always the maker.
Chinas Aufbruch ins 21. Jahrhundert wird von Zeithistorikern als die folgenreichste Transformation einer Gesellschaft in der Weltgeschichte gesehen. Sigg war nicht nur dabei,
sondern er hat diese Transformation verstehen wollen. Er hat begriffen, dass die Kunst vielleicht
ein besseres Instrument dazu ist, als alle diplomatischen Dinner,Geschäftsverhandlungen,
Dienstreisen oder Medienreportagen zusammen.
Die chinesische Gegenwartskunst, wie wir sie
aus Siggs Sammlung kennen, ist ein einzigartiger Zeuge der Transformation Chinas. SeinesNeuaufbaus, der Zerstörungen. Es ist eine zufällige, aber kuriose Metapher, dass Sigg Aufzüge hat konstruieren lassen. Er wollte auch persönlich in die Höhe, aber durch und mit China.
Für mich sind die chinesischen Leben Uli Siggs auch eine Geschichte über die Modernisierung
Chinas. Die Kunstwerke seiner Sammlung
treten auf wie Geschichtenerzähler über eine nie
dagewesene Epoche wirtschaftlicher, sozialer und ökologischer Umbrüche.
Daher kommen im
Film neben Sigg und anderen westlichen Experten und Freunden vor allem chinesische Künstler dreier Generationen und ihre Werke zu Wort.
Sie sprechen nicht so sehr über Kunst, wir lassen vielmehr Kunst und Künstler über die Gesellschaft sprechen.
Die drei Jahre, die ich mit Marcel
Hoehn, Filip Zumbrunn, Feng Membo, Patrick Kull, später Dieter Meier, Marina Wernli und
vielen
anderen an dem Film
gearbeitet habe, die ich mit Uli Sigg, seiner Frau Rita und den
anderen Protagonisten verbracht habe, haben meinen Blick nicht nur auf China, sondern auf
unsere Zeit verändert.
Auf das, was wir Globalisierung nennen.
Ich bin allen Beteiligten, insbesondere Uli und Rita Sigg persönlich, sehr dankbar.

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