Ein Bestseller aus China: der hinreißende Debütroman „Roter Mohn“ des tibetischen Autors Alai
Dieser Erzähler ist ein Idiot. So heißen ihn seine Familienmitglieder, so schimpfen ihn zärtlich seine Geliebten. Für seine weitere Umgebung ist er in erster Linie eine Respektperson, der zweite junge Herr des tibetischen Fürstenhauses Maichi.
Und dennoch wissen selbst die Leibeigenen, dass dieser Fürstensohn anders ist als die „klugen“ Leute um ihn herum, die im Hergebrachten und ihren Postitionen darin fest verankert sind. Der „zweite junge Herr“ lebt im Ungewissen. In seiner Wahrnehmung der Welt halten sich kindliche Naivität und ein tieferer, ahnungsvoller Durchblick die Waage. Dadurch wird er sich als idealer Anführer in einer Zeit erweisen, die im Umbruch begriffen ist. Die Rede ist von einer kleinen Sensation, dem Roman „Roter Mohn“ des tibetischen Autors Alai. Das Buch, mitreißend aus dem Chinesischen übersetzt durch Karin Hasselblatt, lässt sich auf eine Ebene stellen mit einem Roman wie „Hundert Jahre Einsamkeit“ von Gabriel Garcia Marquez. „Roter Mohn“ öffnet ein Fenster in eine fremde Welt und stellt die uralten Fragen nach Liebe und Hass, Rache und Leidenschaft neu. Gänzlich unsentimental schafft das Buch ein Denkmal für eine Kultur, die unwiderruflich vergangen ist; schildert das letzte Jahrzehnt der Kleinfürstentümer im östlichen Grenzland Tibets vor dem Einmarsch der Roten Armee 1950.
Während in Europa ein weiterer Weltkrieg stattfindet, verläuft das Leben im Territorium des Fürsten Maichi wie schon seit Hunderten von Jahren. Das Volk bewirtschaftet Felder und Vieh, die Lamas und Mönche bieten Rat im Alltag und Prognosen für die Zukunft, und in der Festung des Fürsten kümmert sich der Henker um diejenigen, die das Missfallen seines Herrn erregt haben.
Bürger werden ausgepeitscht oder geköpft, unvorsichtigen Mönchen und Propheten die Zunge herausgeschnitten: „Wenn Sie das Gefühl haben, über das Jetzt und das menschliche Leben etwas zu sagen zu haben, dann tun Sie es schnell. Denn wenn Sie keine Zunge mehr haben, können Sie überhaupt nichts mehr sagen. Sehen Sie doch all die verrotteten Zungen, die einmal etwas sagen wollten.“ Der Erzähler, der „zweite junge Herr“, erweist sich früh schon als der Hellsichtigste von allen. Dabei nutzt er seinen Narrenstatus: „Wenn ich falsch lag, so war es, als hätte ich nichts gesagt, ich war schließlich der Idiot. Lag ich aber richtig, begegneten mir alle voll Respekt.“
Je mehr die Gegebenheiten im Reich des Fürsten sich verändern, desto mehr verlassen sich sein Vater und dessen Führungskräfte auf die Eingebungen des „Idioten“. Der erste Einschnitt kommt mit dem Besuch eines Sondergesandten aus dem nahegelegenen China, der den Fürsten überzeugt, einen Teil seines Landes mit rotem Mohn zu bepflanzen. Diese Ernte, so der Sondergesandte, sei ihr Gewicht in Silber wert. Die Freuden des Opiums sind in dieser Gegend unbekannt, doch die Untergebenen des Fürsten behalten ihre Zweifel wohlweislich für sich. Als sich dann das Versprechen des Chinesen tatsächlich einlöst, fangen für die Maichis die Schwierigkeiten erst an.
„Roter Mohn“ schildert das Reich der Fürstenfamilie Maichi als einen gewalttätigen Ort, voller Kriege und Intrigen, auch amouröser Natur, und der süßliche Duft aufplatzender Mohnkapseln scheint die Leidenschaften noch weiter anzufachen.
Die chinesischen Verbündeten haben die Soldaten des Fürsten mit modernen Waffen ausgestattet, welche ebenso zum Einsatz kommen wie die magischen Kräfte der Lamas, die etwa in einem „Krieg der Magier“ den Hagelsturm eines feindlichen Fürsten abwenden.
Der Erzähler selbst – die Geschichte setzt ein, als er dreizehn ist – bleibt zunächst passiv. Doch schon nach wenigen Jahren schickt ihn der Vater als sein Stellvertreter ins nördliche Grenzgebiet, wo er es gleich mit mehreren Gegnern aufnehmen muss. Inzwischen wachsen die zunächst ängstlich gehüteten Mohnpflanzen auch auf den Feldern der benachbarten Fürsten. Nur Fürst Maichi hat in diesem Frühjahr, auf Anraten des Idioten, ausschließlich Weizen angebaut. Der Überschuss lässt die Preise auf dem Opiummarkt einbrechen, mit dem chinesischen Bürgerkrieg schwindet die Verlässlichkeit der einstigen Schutzherren. Eine Hungersnot ist die Folge, und die umliegenden Fürsten fordern mit Waffengewalt einen Anteil der Weizenernte der Maichis.
Der Idiot – ganz im Gegensatz zu seinem kriegslustigen Bruder – beschränkt die Kampfhandlungen aufs Notwendigste und erreicht mit einiger List ein Handelsabkommen mit seinen Feinden, das seinen Außenposten schließlich zu einem blühenden Marktplatz werden lässt. Die Einführung des Kapitalismus verdankt sich in diesem Roman dem Instinkt eines Umnachteten. „Roter Mohn“ liest sich wie eine moderne tibetische Variante des höfischen Romans, mit einem Erzähler, der, gegründet auf einem tibetischen Folklorehelden, als Mischung aus dem tumben Tor Parzifal und dem Schalksnarren Till Eulenspiegel erscheint.
Und doch liegt im Auftritt dieses „Idioten“ mehr. Seiner scharfsinnig-naiven Darstellung der Vorgänge um ihn herum wird breiten Raum gelassen, seine wiederkehrende geistige Verwirrung scheint echt. Ganz bei sich ist er nur im Liebesspiel mit Frauen, an denen ihm, als Fürstensohn, nicht mangelt. Seine größte Herausforderung begegnet ihm in der wunderschönen Fürstentochter Tharna, deren Hand er als Teil seines Handelsabkommens gewinnt. Auch sein älterer Bruder begehrt das stolze Mädchen. Tharna, frustriert über die Zweckehe mit einem Mann, den sie nicht achten kann, gibt dessen Verlangen nach. Für „kluge Leute“ gäbe es in einer solchen Situation nur einen Ausweg. Doch der „Idiot“ reagiert einmal mehr anders als erwartet, auch – das macht seine Figur so anziehend – für sich selbst. Alai, geboren 1959, wuchs im tibetischen Nord-Sichuan auf und schreibt in chinesischer Sprache. Nach Erzählungen und Gedichten ist „Roter Mohn“, erschienen 1998, sein erster Roman. Das Buch war in China ein Bestseller und erhielt 2000 den Mao-Dun-Preis, den wichtigsten Literaturpreis des Landes. Es ist auf dem einheimischen Buchmarkt, auf dem die chinesischen „Popautoren“ überwiegen, eine Ausnahmeerscheinung. Das muss nicht so bleiben.
Bei einer überwältigenden Anzahl Chinesen und einer uralten Tradition von Schrift und Bild könnte es statistisch gesehen nur eine Frage der Zeit sein, bis aus dem Reich der Mitte viele weitere, ähnlich meisterhafte Romane hervorgehen. ——————————Alai: Roter Mohn. Aus dem Chinesischen von Karin Hasselblatt. Unionsverlag, Zürich 2004. 448 S., 22,90 Brigitte Helbling